Die Entscheidung der Hebamme
Rittersmann,
in den Tod für uns gegan’
Dein Sinn war gerecht und rein
wirst uns unvergessen sein.«
Mehr und mehr Menschen sangen diese Worte mit, die Ludmillus alle paar Verse wiederholte. Als der Chor immer lauter wurde, zogen Albrechts Männer die Waffen. Doch ohne sie zu beachten, beendete ein vielstimmiger, machtvoller Gesang das Lied.
Als es verhallt war, trat erneut Stille ein.
»Ergreift ihn! Zerschmettert ihm die Hände und schneidet ihm die Zunge heraus!«, schrie Elmar in das Schweigen hinein.
Während seine Männer ausschwärmten, verneigte sich Ludmillus stumm vor Christians Grab und trat zurück in die Menschenmenge, die ihn zu verschlucken schien, so dass keiner der Häscher ihn zu entdecken vermochte.
Wortlos und wie von unsichtbarer Hand geordnet, defilierten die Menschen an Christians Grab vorbei, verbeugten sich, schlugen ein Kreuz und gingen weiter, um dem Nächsten Platz zu machen und dann den Gottesacker zu verlassen.
Nur Marthe, ihre Kinder und Christians engste Freunde blieben noch an dem frischen Grab stehen, das inzwischen von Wildblumen übersät war, die freundliche Hände daraufgelegt hatten.
Marthe sah auf Clara und ihre Söhne, in deren Gesichtern sich Trauer, Zorn und wilde Entschlossenheit mischten.
Lukas und Raimund boten ihr ihren Arm, um sie zu stützen und nach Hause zu begleiten. Doch Marthe lehnte ab. »Bitte, lasst mich noch für einen Moment allein hier.«
Lukas wollte widersprechen, aber ein Blick auf ihr totenbleiches, von Schmerz gezeichnetes Gesicht brachte ihn zum Verstummen.
So folgten er und seine Freunde gemeinsam mit den Kindern den anderen ins Haus zum Totenmahl und überließen Marthe auf deren Wunsch der stillen Trauer an Christians frischem Grab.
Alte Rechnungen
Marthe war so in Trauer erstarrt, dass sie nicht einmal bemerkte, wie bereits die Dämmerung hereinbrach. Lukas und Raimund waren gekommen, um nach ihr zu sehen, doch sie hatte gebeten, sie noch eine Weile allein hierzulassen und sich an ihrer Stelle um die Trauergäste zu kümmern. Sie wollte jetzt allein sein.
Beim nächsten Mal würden Christians Freunde darauf bestehen, dass sie ihnen folgte. Die Dunkelheit kam rasch um diese Jahreszeit, und sie war die Letzte, die es sich erlauben konnte, ohne Begleitung hier auszuharren, auch wenn sie wusste, dass Lukas irgendwo in der Nähe ein paar Männer zu ihrem Schutz postiert haben würde.
Benommen richtete sie sich auf, um ins Haus zu gehen, ohne eine Vorstellung davon zu haben, wie sie nun ohne Christian leben sollte.
Von düsteren Gedanken gefangen, hatte sie jegliches Gespür für Gefahr verloren. So fiel ihr nicht auf, dass ihr niemand von Lukas’ Wachen entgegenkam, um sie zu begleiten.
Bis sie jäh nach hinten gerissen wurde, ihr jemand eine Hand auf den Mund presste und sie mit der anderen fest umklammert hielt.
»Seid still, und Euch wird nichts geschehen«, raunte eine unbekannte Stimme.
Sie wehrte sich nicht einmal, so tief war ihr Schmerz. Sollten die Fremden sie doch töten. Es war ihr gleichgültig.
Der unbekannte Entführer zerrte sie hinter die Kirche, ohne dass sie sehen oder erraten konnte, wer er war. Jemand verband ihr die Augen und knebelte sie, ihre Hände wurden gefesselt. Es mussten mehrere Männer sein, die ihretwegen gekommen waren.
Erstaunlich behutsam wurde sie auf ein Pferd gehoben.
Kräftige Arme hielten sie – nicht grob, aber fest genug, als dass sie hätte fliehen können. Wohin auch, ohne etwas zu sehen?
Das Pferd, auf dem sie saß, setzte sich in Bewegung.
»Verhaltet Euch ruhig, und Euch wird nichts geschehen«, wiederholte die Stimme direkt hinter ihr. »Ihr müsst Euch nicht fürchten.«
Marthe verlor jedes Gefühl für Zeit und Richtung, aber es kam ihr vor, als würde sie die halbe Nacht hindurch reiten. Offensichtlich hatten die Entführer Befehl, ihr kein Haar zu krümmen. Der Knebel würgte sie, aber das Tuch über ihren Augen war aus weichem, feinem Stoff.
Was hatte das zu bedeuten? Wer hatte diese Männer ausgeschickt? Wer besaß ein Interesse daran, sie heimlich zu entführen – und weshalb? Wenn die Männer sie töten wollten, hätten sie es längst getan.
Dem Hufklang nach musste es eine Gruppe von vier bis fünf Reitern sein, die sich mit ihr als Beute wortlos durch die Nacht bewegten.
Marthe versuchte durch eine Bewegung zu ergründen, ob es ihr möglich wäre, sich vom Pferd fallen zu lassen. Die Gefahr, dabei unter die Hufe zu kommen, wollte sie in Kauf nehmen. Ihr Leben
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