Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
sagen.«
Lottinger verließ den Schuppen und sie folgte ihm. Gemeinsam setzten sie einen ziemlich verdutzten Wachposten davon in Kenntnis, dass er einen leeren Raum bewacht hatte.
»Nun lass dir mal etwas einfallen, wie du das deinem Herren erklärst«, meinte Lottinger zu ihm, worauf der junge Mann mit hängenden Schultern und kummervoller Miene davonschlich.
Bernina hielt sich noch ein wenig länger in Teichdorf auf, fragte hier und da nach dem Flüchtigen. Viele hatten ihn gesehen, keiner jedoch kannte ihn. Wiederum in Begleitung von Hermann Lottinger machte sie sich auf den Rückweg zum Petersthal-Hof.
Auch Nils wusste sich, als sie eintraf und ihm davon berichtete, keinen Reim darauf zu machen. Erst beim Abendessen sprachen sie erneut darüber. Nils nahm sich vor, noch mehr Wachsamkeit an den Tag zu legen. »Irgendein dahergelaufener Bursche löst bei mir nicht gerade übermenschliche Ängste aus«, meinte er nachdenklich. »Doch vielleicht steckt mehr hinter dieser komischen Angelegenheit.«
»Vielleicht auch gar nichts«, erwiderte Bernina, obwohl sie ihren eigenen Worten nicht recht glauben mochte.
Später ertappte sie sich dabei, wie sie am Fenster des Schlafzimmers stand, in ihrem Rücken die Dunkelheit des Raumes, vor ihr der Ausblick in ein schwarzes, undurchdringliches Nichts. Die Umrisse der Scheune und des Stalls vermischten sich mit der Finsternis, die Konturen der Nacht schienen geisterhaft zu wabern. Bernina wurde von dem dumpfen Gefühlt erfasst, irgendwo dort draußen würde sie aus fremden Augen angestarrt, irgendwo in der Nähe wäre jemand, der sich keine ihrer Bewegungen entgehen ließ.
Sie zuckte leicht zusammen, als Nils das Zimmer betrat und sich nach einem ausgiebigen Gähnen das Wams über Kopf und Schultern streifte. »Hundemüde bin ich«, murmelte er. Das Bett knarzte unter seinem Gewicht, als er sich darauf fallen ließ.
Wieder schlief Bernina nicht sonderlich gut, manchmal wachte sie auf, immer nur kurz. Irgendwann gegen Morgen schreckte sie erneut auf. Sie tastete nach Nils, doch da waren lediglich die mit Stroh gefüllte Matratze, die Überdecke und eine leichte Wärme, die sein Körper zurückgelassen hatte.
Schlagartig war sie wach. Sie setzte sich auf und blinzelte gegen die Dunkelheit an.
Ein Geräusch. Das Ächzen von Holz, über das jemand mit Vorsicht hinwegschritt. Und erneut dieses Geräusch.
Aus einem ersten Impuls wollte Bernina nach Nils rufen, aber kein Ton kam über ihre Lippen. Sie stand auf. Lautlos tappte sie mit bloßen Füßen über die Bodendielen des Gangs.
Zum dritten Mal erklang das Geräusch.
Bernina nahm eine Treppenstufe nach der anderen, zwang sich beim Hinabgehen dazu, Vorsicht walten zu lassen. Ihre Augen hatten sich an die Finsternis gewöhnt. Durch die Ritzen der Läden, mit denen die Fenster verschlossen worden waren, glitt das erste Licht des Tages ins Innere.
Ein Quietschen. Lediglich ein paar Meter von ihr entfernt. Die Haustür wurde geöffnet. Dann wieder nur dieses lautlos pochende Nichts, das den gesamten Hof wie mit einem großen Tuch einhüllte.
Von einem Wimpernschlag auf den anderen fiel die herrschende Stille in sich zusammen. Ein Schrei – »He!« – , unzweifelhaft aus der Kehle von Nils, dann das Stampfen von Schritten, das Reißen von Stoff und das Aufeinanderprallen zweier Körper.
»Nils!«, rief sie. Und gleich noch einmal lauter: »Nils!«
Schnell überwand sie den Gang, der spiegelgleich zu jenem im ersten Stock verlief. Sie stürzte auf die offene Tür zu. Ein Sprung und sie tauchte ein ins Freie, empfangen von der Morgendämmerung, deren zarte Helligkeit die Hofgebäude und deren Umgebung wie mit Mehl gepudert hatte.
Berninas Augen offenbarte sich ein Klumpen, der sich bewegte: zwei Menschenleiber, miteinander ringend. Der eine davon Nils, nur mit seinem weißlichen Nachthemd bekleidet – den anderen vermochte Bernina nicht zu erkennen.
Nils kam auf die Beine, packte seinen Gegner, der mindestens zwei Köpfe kleiner war. Er lachte auf, wütend, aber fast auch ein wenig belustigt. »Du kleine Kröte«, hörte Bernina seine Stimme.
Dann ging alles schnell. Der Fremde war flink, wand sich aus Nils’ Griff, eine Hand schoss nach vorn, in der sich eine Pistole befand. Nils drückte den Arm weg, der Schuss entlud sich mit schier ohrenbetäubender Gewalt.
»Nein«, schrie Bernina auf. Sie rannte weiter, wollte eingreifen, doch erneut war der Fremde schneller. Er schlug zu, mit der ganzen Kraft, die sein
Weitere Kostenlose Bücher