Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Geäst und Sträuchern aus. Schließlich ließ er das Pferd einfach zurück, es behinderte ihn, kostete Zeit, stellte in dieser Situation keine Hilfe dar.
Wenn der Flüchtige bei seinem eigenen Reittier ankommen würde, ehe Norby ihn stellen konnte, war die Gelegenheit dahin, das wusste der Schwede. Umso mehr kam es darauf an, jetzt eine Entscheidung herbeizuführen. Oft waren er und dieser geheimnisvolle Mann inzwischen aufeinandergetroffen. Ja, eine Entscheidung. Endgültig.
Unter einem tief hängenden Ast tauchte er hinweg, über dicke Wurzelstränge stieg er, die Lippen fest aufeinandergepresst, mit allen Sinnen darauf gefasst, geradewegs in eine tödliche Falle zu tappen.
Tief musste er sich immer wieder bücken, um die Fußabdrücke nicht zu übersehen – und gleichzeitig wachsam sein, am besten in jede Richtung gleichzeitig spähen. Zu seinem Glück konnte der andere sich auch nicht viel schneller fortbewegen, da er sonst zu laute Geräusche verursachen würde. Also weiter, immer weiter. Eine Sekunde erschien unnatürlich lang zu dauern, die Zeit spielte verrückt. Oder die eigene Wahrnehmung.
Erneut glitt Norby unter einem Ast hindurch – und plötzlich hielt er inne, wie mitten in der Bewegung eingefroren. Die Spur endete abrupt: ein letzter Abdruck, sonst nichts.
Ein Fauchen in der Luft, das Federn eines starken Astes, von dem der Fremde abgesprungen war. Das Aufblitzen einer Degenklinge. Ein finsterer Schemen, der von oben herabglitt.
Norby ließ sich fallen, geistesgegenwärtig, intuitiv, die Waffe stach an ihm vorbei ins Leere. Die pechschwarze Gestalt war über ihm, stach noch einmal voller Wucht zu. Norby wich aus, dann schnellte er hoch.
Die Klingen der Degen trafen mit lautem Klirren aufeinander. Selbst aus der Nähe blieb der Gegner ein Schatten, als würde Norby gegen ein Gespensterwesen kämpfen. Allein die Augen funkelten, allein sie vermittelten Lebendigkeit. Abermals kreuzten sich die Klingen, heftiger als zuvor fiel der Schlag aus, Norby spürte die Wucht bis ins Schultergelenk hinauf. Er keuchte, nahm unbewusst den Schweiß wahr, der ihm aus den Poren strömte – mitsamt der Wut, der Aufregung, der Anstrengung, die sein Blut zum Kochen brachten. Es war ein Kampf aufs Äußerste, ein Kampf, wie er früher viele hatte ausfechten müssen. Doch heute war es anders. Er kämpfte nicht mehr nur für sich, er kämpfte für Bernina, für einen Menschen, den er liebte. Das gab ihm Kraft – und schien ihn zugleich zu lähmen, verletzlich zu machen.
Ja, die Entscheidung. Diesmal würde es enden, einer von ihnen würde dieses Zusammentreffen nicht überleben.
Norby wich dem nächsten Hieb aus, verfehlte seinerseits seinen Widersacher. Der Fremde war schnell, gewandt, er war erfahren, er war nicht dumm und mischte gekonnt ungestüme Angriffslust mit bedachter Vorsicht. Mit dumpfer Klarheit wurde Norby bewusst, dass er in seinem Leben niemals auf einen besseren Fechter getroffen war. Hast du Angst?, pochte urplötzlich eine lautlose Frage in seinem Kopf. Hast du Angst, dass du es nicht schaffst? Zum ersten Mal? Sein Herz klopfte derart heftig, dass es ihn schmerzte. Ein weiterer Angriff des Mannes, Norby entkam um Haaresbreite dem tödlichen Hieb.
Nur einer von ihnen würde am nächsten Morgen die Sonne aufgehen sehen, das wussten sie beide. Und wieder stürmten die Männer aufeinander ein, die Waffen erhoben, eine wilde Verzweiflung im Blick, zu allem entschlossen.
*
Selbst hier, fernab vom Geschehen der Welt, in diesen verwunschen erscheinenden Wald- und Gebirgslandschaften, erreichten Franz von Lorathot noch die Boten, erreichten ihn noch die Nachrichten, so ungeheuer wichtig waren sie. Und auf einmal ergab sich doch ein Bild, auf einmal wurde alles greifbarer.
Wochen lag es mittlerweile zurück, seit Kurfürst Maximilian im fernen Bayern zu der Reise aufgebrochen war. Jetzt, mit seinem Tross fast am Ziel, verdichteten sich Hinweise, die Lorathot zu größerer Eile als bislang anspornten. Zum ersten Mal war von einer Zusammenkunft die Rede, von einem bedeutenden Treffen, das die Zukunft der Welt in neue Bahnen lenken konnte.
An diesem Abend, der sich aschgrau und finster, mit einigen verlorenen Regenspritzern über die Gegend ausbreitete, ließ Feldmarschall Franz von Lorathot nicht wie sonst das Lager errichten. Er gab die Weisung, weiterzureiten, trotz beginnender Nacht und Dunkelheit, trotz Ermüdungserscheinungen bei Soldaten und Pferden. Er übernahm selbst die Spitze,
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