Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
wären sie in dieser abgelegenen Gegend verloren.
Kurz darauf war Nils wieder da. »Wie in Luft aufgelöst, der Bursche«, schnarrte er durch zusammengebissene Zähne. Er holte sich eines der Pferde und sattelte auf.
»Du willst doch nicht etwa … «, entfuhr es Bernina. Die Entschlossenheit in seinen Zügen ließ sie verstummen.
»Ich muss mich einfach umsehen. Ich kann nicht hier abwarten und … « Er presste die Lippen aufeinander.
»Es wird bald stockdunkel sein.«
»Trotzdem. Ich werde in der Nähe bleiben, in Rufweite.«
»Aber … «
Er ließ das Pferd lostraben, den Blick stur geradeaus gerichtet, und Bernina kannte ihn zu gut. Es wäre unmöglich gewesen, ihn umzustimmen. Sie schaute ihm hinterher, wie er in den Wald ritt, seinen Degen lässig in der Hand. Dumpf schlug ihr Herz gegen ihre Brust. »Nils«, sagte sie, so leise, dass nicht einmal sie selbst dieses Wort zu hören vermochte.
Während sich Mentiri auf einer Decke niederließ, eine zweite um die Schultern geschlungen, und seinen Rücken an eines der Wagenräder lehnte, tauschte Bernina im Schutz des hinteren Wagen ihr nasses Kleid gegen ein frisches. Mit einem Tuch rieb sie ihr Haar trocken und setzte sich anschließend neben Mentiri. In Gedanken jedoch war sie bei Nils. Unablässig suchte sie die zusehends dunkler werdende Umgebung ab.
»Wie ich Ihren Gemahl einschätze, wird er sich zu behaupten wissen.« In Mentiris Stimme schwang Zuversicht mit. Behutsam berührte er kurz ihre Hand, und sie bemerkte, dass seine Haut eiskalt war.
Dankbar für die Aufmunterung nickte sie ihm zu, äußerte aber kein Wort. In der Dämmerung wirkte sein Gesicht weiß, geradezu durchscheinend. Sie starrte vor sich hin und horchte in den Wald, dessen knackende Laute unnatürlich klar, seltsam eindringlich zu ihr drangen.
»Ja«, sagte Mentiri. »Dieser Herr Norby weiß sich durchzusetzen. Ein Mann, der es Ihnen gewiss nicht immer einfach macht, meine verehrte Bernina. Aber ich kann verstehen, dass er Ihr Herz erobert hat.«
Sie erwiderte nichts darauf.
»Verzeihen Sie«, bemerkte er zurückhaltender. »Ich wollte nicht aufdringlich sein. Mich geht das schließlich nicht das Geringste an.«
Auf Berninas Miene zeigte sich ein kleines Lächeln, mit dem sie jedoch die Sorge um Nils nicht überspielen konnte. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Und ich muss sagen, in letzter Zeit war eher ich es, die es ihm nicht einfach gemacht hat.« Sie zögerte, ehe sie fortfuhr: »Am Anfang, als wir uns kennenlernten, mussten wir uns erst zusammenraufen. Das war nicht einfach. Aber seither steht Nils zu mir.«
»Sie lieben ihn sehr, nicht wahr?«
»Für eine kurze Zeit hätte ich das fast vergessen.« Bernina sah auf. »Aber – gewiss, wir lieben uns. Ein Leben ohne ihn kann und will ich mir gar nicht vorstellen.«
»Ach ja, Liebesgeschichten rührten mich stets besonders an.«
Selbst jetzt war Bernina sich nicht sicher, wie viel Ironie und wie viel Ernst aus seinen Worten sprach.
Er fügte an: »Sie kennen ja die Geschichte von Jan Simons.«
»Sie meinen, Ihre Geschichte.«
»In der Tat, meine . Ich reise derart lange unter allerlei Namen, dass ich manchmal vergesse, wer ich einst war. Dieser Jan Simons verlor die einzige Liebe, die er je hatte. Sie erinnern sich bestimmt, als ich Ihnen von seinem großen Liebeskummer nach dem Tode seiner Gemahlin berichtete. Und im Gegenzug gewann er ein Leben im Dunkeln, im Geheimnisvollen. Kein guter Tausch, wenn Sie mich heute, nach all den Jahren, fragen. Wohl deshalb bin ich von jeder Liebesgeschichte gerührt.«
»Kennen Sie denn so viele?«
»Nicht viele, aber durchaus welche, die bewegend sind.« Er sprach lauter. »Vor vielen Jahren traf ich einen Mann, der ebenfalls eine solche Geschichte durchlebt hatte. Darüber erfuhr ich nicht unmittelbar von ihm. Aber Sie wissen ja, dass meine Ohren immer gespitzt sind, um es einmal so auszudrücken. Wie dem auch sei, dieser Mann war ein hoch angesehener und mächtiger Herr, einer der mächtigsten im ganzen Kaiserreich. Zu der Zeit, als sich die Geschichte zutrug, also vor mehr als drei Jahrzehnten, zählte er etwa 40 Jahre. Ein Alter, in dem man für gewöhnlich sein Herz nicht leicht verliert. Und nicht auf derart heftige Weise.«
»Jener Herr verliebte sich dennoch«, warf Bernina ein, eigentlich ganz froh über die Ablenkung, die Mentiri ihr bescheren wollte.
»Und wie er das tat.« Mentiri nickte. »Obwohl er nicht gerade in dem Ruf stand, ein Gefühlsmensch zu
Weitere Kostenlose Bücher