Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
der Mann ging in die Knie und nahm nicht mehr wahr, dass Norby erneut vor ihm stand.
»Nicht, Nils! Du musst ihn nicht töten!« Berninas Stimme füllte noch die Luft, als Norbys Degenspitze den Fremden erfasste und er röchelnd vornüber sank.
In diesem Moment gaben die übrigen Angreifer auf und rannten davon, offenbar überrascht von der tödlichen Gegenwehr.
Dennoch blieb kein Moment zum Atemholen. Norby, Lottinger und Ferdinand machten sich unverzüglich daran, die Planen von den Wagenkästen zu reißen und sie in das nahe Flüsschen zu werfen. Die Flammen waren auf einige der Kisten übergegangen, und so mussten die Männer Decken, die sie flugs mit Wasser getränkt hatten, darüber werfen.
Bernina konnte keinen einzigen Blick für sie erübrigen. Vorsichtig, fast sanft hatte sie Alwines schlaffen Körper von Mentiri heruntergezogen, als könnte sie ihr noch Schmerz zufügen. Nun lag die frühere Hure neben Mentiri, wie er auf dem Rücken im hohen Gras. Ihre Gesichtszüge waren völlig entspannt, die Lider geschlossen, als schlummere sie ein wenig. Doch der Blutfleck, der ihre Brust bedeckte, ließ keine Zweifel zu.
Mentiri kämpfte sich auf die Knie. In seinem Gesicht war jeder Muskel, jede Faser angespannt, noch weißer als sonst die Haut, tief, wie von einer scharfen Klinge gezogen, die vielen Falten. Er betrachtete die Tote, traurig, leer, ungläubig.
Bernina half ihm, aufzustehen.
»Armes Kind«, murmelte Mentiri. »Die Kleine hatte es nicht leicht im Leben. Kein Wunder, dass sie uns in Freiburg als ein derart rücksichtsloses Ding erschienen war. Es gibt viele wie sie.«
Norby, Lottinger und Ferdinand gesellten sich zu ihnen. »Die Planen sind nicht mehr zu gebrauchen. Aber die Bücherkisten haben wir vor Schlimmerem bewahren können.« Leise waren die Worte über Nils’ Lippen gekommen.
»Und jetzt«, fuhr Mentiri fort, als hätte der Schwede gar nichts gesagt, »ausgerechnet jetzt, da unsere kleine Alwine zum ersten Mal in ihrem trostlosen Leben auf einem anständigen Wege war, hat sie es gleich übertreiben müssen mit der Güte.« Fast schien es, als breche er in Tränen aus. »Ich frage mich, ob ihr in jenem Sekundenbruchteil überhaupt bewusst war, was sie tat. Herr im Himmel, sie hat sich für mich in die tödliche Kugel gestürzt. Einfach so.« Er schnaufte. »Wie soll ich das je gutmachen? Wie soll ich … ?« Seine Stimme geriet ins Stocken, verklang schließlich ganz.
»Ich weiß, es klingt nicht sehr mitfühlend«, meinte Nils, »aber wir sollten uns nicht allzu lange hier aufhalten. Womöglich war das nur eine Vorhut und weitere von denen … «
»Sie haben vollkommen recht«, unterbrach ihn Mentiri. »Lasst uns das arme Mädchen auf einen der Wagen … « Bei diesem Wort sank er zu Boden, kraftlos, ohnmächtig, beinahe wie tot, und erst jetzt dachte Bernina wieder daran, dass der alte Herr verwundet worden war. Seine Schulter war verletzt, die Kugel steckte offenbar noch in ihr, er verlor viel Blut.
»Wären die Schützen näher gewesen, hätten sie nicht nur ihn getroffen«, äußerte Norby.
»Oder es war so, dass es ihnen vor allem um ihn ging«, antwortete Bernina, während sie eilig Mentiris Oberkörper von der Kleidung befreite, um einen notdürftigen Verband anzulegen. »Was hat der Ärmste alles einstecken müssen«, meinte sie nachdenklich. »Viel zu viel für einen Herrn seines Alters.«
»Nicht nur er«, erinnerte sie Nils mit einem Murmeln.
»Hoffentlich schafft er es bis nach St. Peter«, ging sie gar nicht auf die Bemerkung ein. »Hoffentlich schafft er das, was ihm so sehr am Herzen liegt.«
Mit aller Behutsamkeit wurde Mentiri auf den ersten Wagen verfrachtet, während die tote Alwine auf den zweiten gelegt wurde, quer über die Kisten hinweg, von Kopf bis Fuß verhüllt mit einer Wolldecke.
So suchten sie wieder ihren Weg Richtung St. Peter, eine eigenartige Prozession, gehüllt in brütendes Schweigen, Norby neben Bernina auf dem vorderen Wagen, Lottinger und Ferdinand auf dem hinteren. Noch angespannter, noch aufmerksamer war jeder Einzelne von ihnen. Der Tod war innerhalb einiger schrecklicher Minuten zu ihrem Mitreisenden geworden, kalt und unbarmherzig, und angesichts des bleichen, schwer atmenden Mentiri schien es, als hätte er noch nicht genug.
Eine gute Stunde nach dem blutigen Zwischenfall hielten sie erneut an. Bei einer einsamen Eiche, inmitten einer Wiese mit bunten Blumen, zahlreich wie die Sterne einer klaren Sommernacht, beerdigten sie
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