Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Bernina fühlte, dass sie und ihre Begleiter ein komisches Bild angesichts dieser Herrschaften abgaben, in ihrer einfachen Aufmachung, die auf der beschwerlichen Reise noch zusätzlich in Mitleidenschaft gezogen worden war. Doch in den Blicken, die sie trafen, lag Neugier, keine Geringschätzung.
Für einen verwirrend kurzen Moment wurde es Bernina schwarz vor Augen, nicht vor Aufregung, sondern es war genauso wie vor Kurzem in den Wäldern, als ihre Knie auf einmal nachgaben und ihre Umgebung verschwamm. Schnell hatte sie sich wieder in der Gewalt.
Am Ende der Tafel erhob sich nun ein Mann, der älteste von allen, gewiss um die 70 Jahre. Auf seinem länglichen, aristokratisch aussehenden Kopf lichtete sich das grau durchsetzte Haar deutlich, während es an den Seiten bis auf die Schultern fiel. Noch heller waren Schnurr- und Kinnbart. Aus seinen Zügen sprach eine Mischung aus Güte und Strenge zugleich, ebenso Wissbegierde und zweifellos auch eine gewisse Altersmüdigkeit. Vollkommen in Schwarz war der Herr gekleidet, weiß nur der ausladende Spitzenkragen und die Rüschen, die sich um seine dürren Handgelenke kringelten.
»Wer ist das?«, hörte Bernina hinter sich Hermann Lottinger flüstern.
»Das ist Maximilian I., Kurfürst von Bayern«, kam von Nils Norby die Antwort, ebenso leise. »Persönlich traf ich ihn nie. Aber ich sah ein Gemälde, auf dem er porträtiert wurde.«
Bernina erstarrte innerlich. Sie hatte diesen alten Mann schon einmal gesehen. In einem Traum. Da war ein Zimmer mit Kerzen gewesen, und er hatte sie angestarrt, eindringlich, mit unheimlichem, schwer zu deutendem Ausdruck.
»Es freut mich«, begann der alte Herr, »dem berühmt-berüchtigten Herrn Mentiri von Angesicht zu Angesicht gegenüberzustehen.« Seine Stimme war fest und klar und füllte das Zelt bis unter das Dach aus.
Der Angesprochene verneigte sich huldvoll und zeigte sein feinstes Lächeln. »Keineswegs berühmt und, so hoffe ich, auch nicht berüchtigt. Falls mein Widerspruch gestattet wird. Und übrigens, gewiss erinnert sich seine Hoheit nicht mehr, aber es ist nicht das erste Mal, dass wir uns … «
»Durchaus erinnere ich mich«, wurde er sanft unterbrochen. »Und zwar an einen lange, lange zurückliegenden Tag. Wenn auch Ihr Name damals nicht Mentiri lautete.« Ein Grinsen umspielte seine Mundwinkel.
»Das mag sein, aber der Name eines Mannes ist doch nicht so entscheidend wie das Herz, das in seiner Brust schlägt.«
»Schöne Worte«, lachte der Kurfürst milde auf. »Und auch wahre. Denn letzten Endes sind es die Taten, die uns ausmachen.« Eine beschwichtigende Geste mit der knochigen Hand. »Nun ja, wir sollten aufpassen, nicht allzu sehr ins Philosophieren abzugleiten. Zumal ich, wie schon angedeutet, meine Neugier kaum noch im Zaum zu halten vermag. Einige Teilnehmer unserer bescheidenen Runde«, er deutete dezent zu den anderen Männern, »erzählten bemerkenswerte Dinge über Sie, Herr Mentiri. Sowohl vorgestern Abend als auch den Tag über fiel ihr Name erstaunlich häufig. Es gab Andeutungen, Sie hätten eine Überraschung für mich, die selbst den weiten Weg hierher zu einer überaus lohnenden Anstrengung machen würde.«
»Lohnenswert? Ein gutes Stichwort.« Mentiri wurde ernsthaft. Etwas geradezu Feierliches vermochte er auf einmal auszustrahlen. »Vor allem für den Geist lohnend, wenn man mir diese Bemerkung gestatten möchte. Lohnend für den Wissensreichtum, für die Wissenschaften, für heutige Generationen wie auch für kommende.«
»Schon wieder schöne Worte«, rief der Kurfürst aus. »Können Sie diese Worte für unsere Runde greifbar machen, mein Herr? Das wäre wunderbar.«
Während Bernina dem Kurfürst zuhörte, spürte sie, wie der Blick des Mannes sie erst streifte – und dann mit großer Eindringlichkeit voll und ganz erfasste. Als würde ihn eine Erinnerung kitzeln. Fast schien es, als hätte ihn ihre Anwesenheit für einen Moment aus dem Konzept gebracht.
»Wunderbar ist das«, nahm Mentiri den Faden auf, »was seine Hoheit gleich zu sehen bekommen wird. Doch vorher möge mir die weise Runde erlauben, ihr meine höchst achtbaren Begleiter vorzustellen. Denn ohne sie wäre ich nicht hier. Und ebenso wenig nicht das, um das sich heute alles drehen soll. Also, Ehre, wem Ehre gebührt.« Er trat ein wenig zur Seite, um die ganze Aufmerksamkeit den anderen zukommen zu lassen. »Hier haben wir einen mutigen Mann weniger Worte, den man Ferdinand ruft. Ich weiß nicht einmal
Weitere Kostenlose Bücher