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Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Alwine – trotz der kostbaren Zeit, die sie dadurch verloren. Bernina sprach ein kurzes Gebet an dem Grabhügel mit dem einfachen Holzkreuz, in das lediglich der Vorname eingeritzt war. Auf den Ästen der Eiche hockte, sauber aufgereiht wie für ein Gemälde, eine Schar Krähen, die die Zeremonie misstrauisch zu beobachten schien.
    Ohne viele Worte brachen sie auf. Mentiri war nach wie vor ohne Bewusstsein. Fortwährend behielten sie die Umgebung im Auge. Bevor der Abend hereinbrach, wechselte Bernina den Verband des Verletzten. Kurz erwachte er, und sie nutzte die Gelegenheit, um ihm zu essen und zu trinken zu geben. Dankbar lächelte er sie an, ehe er von Neuem in tiefen Schlaf fiel. Als Bernina ihn betrachtete, musste sie unwillkürlich an bestimmte Träume denken, in denen sie in eine Totenmaske gestarrt hatte, in diese Furcht einflößende Grimasse mit verdorrter Haut, scharfem Lippenbogen und einem Nasenrücken wie ein schmaler Felsgrat. Jenes Gesicht wie eine verwitterte tote Landschaft war das Antlitz Mentiris gewesen, jetzt wusste Bernina das. Und sein Anblick, hier und heute, schlafend, verletzt, völlig erschöpft, ging ihr erst recht durch und durch.
    Trotz der Dunkelheit entschieden sie sich dafür, nicht zu lagern. »Diese Nacht müssen wir überstehen«, sagte Nils Norby mit unheilvollem Unterton.
    Das Meer aus Sternen und darin die Insel eines fast runden Mondes schenkten ihnen genügend Licht, um voranzukommen, wenngleich nur sehr langsam.
    Es war eine Nacht, die nie zu enden schien, eine Nacht, als könnte die Welt auf ewig in dem schwarzem Nichts versinken, das sich ihrer bemächtigt hatte. Bernina fühlte keine Ermüdung, eher Mutlosigkeit. Sie lehnte sich an Nils’ kräftige Schulter. Seine Nähe tat gut, tat so unheimlich gut.
    Als Bernina es kaum noch für möglich hielt, zerfloss die Finsternis endlich. Irgendwo am Horizont kroch eine stumpfe Helligkeit heran, gemächlich, fast unwirklich, wie eine Täuschung der Sinne. Endlich ein Moment des Durchatmens, denn die Stunden der Dunkelheit hatten nach dem gestrigen Angriff wie eine einzige riesenhafte Drohung auf sie gewirkt.
    Zum ersten Mal seit Alwines Begräbnis stoppten sie die Wagen an einer nicht einsehbaren Stelle, umgeben von Hügeln, deren Dunkelgrau sich dank der frühen Sonnenstrahlen in ein tiefes Grün verwandelte.
    Bernina und Nils glitten von der Wagenbank, mit steifen Beinen und schmerzenden Rücken. Als sie ihren Mann ansah, erkannte Bernina auch bei ihm Erleichterung darüber, dass die Nacht ohne weitere Vorkommnisse vorübergegangen war. Mit seiner typischen Gelassenheit lächelte er sie an.
    Doch im nächsten Moment veränderte sich sein Ausdruck.
    Sie drehte sich um und starrte verblüfft den Männern entgegen, die auf sie zuritten; der Kleidung nach Soldaten, stark bewaffnet, wesentlich zahlreicher als am Vortag bei dem hinterhältigen Überfall.
    »Sieht so aus, als hätten wir uns zu früh gefreut«, hörte sie Nils murmeln.
    Unwillkürlich ergriff sie seine Hand.
     
    *
     
    Sie bewegten sich auf den gleißenden Fächer aus frühem Tageslicht zu. Vor, neben und hinter den Wagen ritten Soldaten, die sich keine ihrer Regungen entgehen ließen, die sie jederzeit genau im Auge behielten. – Ein Ring, aus dem es kein Entkommen gab.
    Gegenwehr oder Flucht, beides war unmöglich gewesen angesichts der Übermacht. Die Waffen hatten sie abgeben müssen, doch zumindest waren ihnen keine Fesseln angelegt worden. Angeführt wurden die Fremden von einem Offizier, einem Hauptmann, der nicht viele Worte machte, sondern sich auf knappe Anweisungen beschränkte.
    Es dauerte eine Weile, bis Bernina und Nils klar wurde, dass die Soldaten dasselbe Ziel zu haben schienen wie sie selbst – nach wie vor hielten sie genau auf St. Peter zu. Die Luft erwärmte sich ein wenig, keine Wolke am Himmel, ein endloses Meer. Über ihren Köpfen zogen Krähen dahin, die sich im makellosen Blau aufzulösen schienen.
    Bernina wechselte einen raschen Blick mit Nils, als das große Gebäude in Sichtweite kam.
    In einiger Entfernung passierten sie das Kloster. Etwas abseits des Portals entdeckten sie ein großes Zelt. Mit vorgehaltenen Musketen brachte man sie in einen Schuppen, offenkundig ein behelfsmäßiges Gefängnis, das an allen vier Seiten bewacht wurde. Als Norby den schlafenden Mentiri hineintrug, schlug der Verletzte zum ersten Mal nach langen Stunden die Augen auf. Es war ein beinahe grotesker Anblick, als Mentiri, in den starken Armen des

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