Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
hatten.
Andererseits – wie mochte die Welt schon davon erfahren, was sich an einem derart einsamen, abgeschiedenen Ort wie St. Peter ereignete? Vor allem dann, wenn kein Zeuge zurückblieb. Jedenfalls keiner, dessen Wort mehr Gewicht besaß als Franz von Lorathots.
Der Tod warf bereits wieder seinen Schatten. Lorathot sah ihn förmlich vor sich und begrüßte ihn wie einen alten Bekannten, mit diesem sardonischen Grinsen. Ja, höchste Zeit, zuzuschlagen.
*
Ein weiterer Tag, eine weitere Nacht waren vergangen. Diesmal ohne Zwischenfälle, mit einer Friedlichkeit, die allerdings nichts Beruhigendes ausstrahlte. Die letzten Geschehnisse wirkten spürbar nach.
Die Sonne schien, keine einzige graue Wolke mehr, ein letzter Rest Sommer, der sich über die Welt ergoss. Doch weder der wie blank geputzte blaue Himmel noch die neu aufkommende Wärme konnte darüber hinwegtäuschen, dass der Pfad, dem sie folgten, so dunkel war, wie Mentiri ihn angekündigt hatte. Jetzt war es nicht mehr weit, verlockend nahe das geheimnisvolle Ziel, und gerade deshalb spürte jeder von ihnen die innere Anspannung umso stärker.
Bernina und Lottinger hatten Nils Norby von dem kurzen Zwischenfall erzählt, als sie während seiner Abwesenheit einen Unbekannten bei den Wagen bemerkt und vertrieben hatten. »Vielleicht ein hungriger Streuner, ein harmloser Strauchdieb«, mutmaßte der Schwede. »Doch das zeigt uns umso klarer, wie wachsam wir sein müssen.«
In der letzten Nacht hatten er und Bernina lange wach gelegen, eingerollt in wärmende Decken. Hoch zu den Sternen hatten sie geschaut, in Gedanken vertieft, Worte im Flüsterton ausgetauscht, die untermalt wurden von dem Geschnarche Hermann Lottingers und Mentiris.
Nils erzählte von dem Moment, als er den Tod über den dritten und letzten der dunkel gekleideten Fremden gebracht hatte, mit einem blitzschnellen Degenstoß, nachdem er selbst Sekundenbruchteile zuvor nur knapp einem gefährlichen Hieb ausgewichen war. »Als das Leben ihn verließ«, sagte Nils leise, »verlor sich zum ersten Mal dieses Maskenhafte, Unbewegliche, diese Furchtlosigkeit, mit der er mich bei unseren vorigen Auseinandersetzungen angestiert hatte. Vollkommen ohne Angst, so hatte dieser Mann immerzu auf mich gewirkt.« Er ließ ein wenig Zeit verstreichen, ehe er fortfuhr: »Sein Gesicht entspannte sich, er sah plötzlich menschlich aus, und in seinen Augen stand Verzweiflung.«
»Er wusste«, warf Bernina ein, »dass ihm der letzte Atemzug bevorstand.«
»Und doch war es nicht allein das. Als würde er bereuen. Ich meine, alles bereuen, sein Leben, seine Taten. Als würde er an jemanden denken, den er liebte, an seine Frau, an sein Kind, an wen auch immer. Er starrte mich an. Ohne mich zu sehen. Dann war er tot. Dieser Blick wird mich mehr begleiten als andere Todesgrimassen, in die ich bereits in früheren Jahren starren musste. Er erinnerte mich daran, dass ich noch stärker um das kämpfen muss, was mein ist. Und dass ich es noch sorgsamer hüten, dass ich es bewahren muss.«
Bernina spürte trotz der Finsternis, wie durchdringend Nils sie bei diesen Worten ansah. Nie zuvor hatte er von blutigen Erlebnissen auf diese Weise berichtet, von Situationen, die über Leben und Sterben entschieden. In diesem Moment war Ferdinand aufgetaucht, um sich von dem Schweden zur Nachtwache ablösen zu lassen, und Bernina hatte sich allein unter der Decke zusammenrollen müssen, nach wie vor hellwach, nach wie vor mit unruhig umherwandernden Gedanken. Selbst jetzt noch, bei Tage, im geradezu goldenen Sonnenflimmer, fühlte sie die Verbundenheit, die bei jenen Worten zwischen Nils und ihr geherrscht hatte.
Von einer offenen Ebene aus waren sie in einen Wald eingetaucht, den sie langsam, aber stetig durchquerten und der sie bald darauf wieder freigab. Lottinger und Bernina saßen auf dem ersten Planwagen, Ferdinand und Mentiri, der den ganzen Tag noch kein einziges Wort geäußert hatte, auf dem zweiten, während Norby auf seinem Pferd auf und ab ritt, mal außer Sichtweite, mal nahe bei den Wagen. Unaufhörlich musterte er die Umgebung, als würde er hinter jedem Strauch eine Gefahr wittern.
Gegen Mittag legten sie eine Rast ein, die Mentiri gar nicht kurz genug sein konnte. Obwohl es schien, als wäre er allmählich am Ende seiner Kräfte angelangt, drängte er ruhelos zum Aufbruch. In seinen Augen zeigte sich ein Fieber, das höchste Anspannung verriet. Ansonsten hörten sie weiterhin kaum einen Ton von ihm,
Weitere Kostenlose Bücher