Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
außer einem zeitweiligen Husten, das stets rauer und kehliger klang.
»Es ist nicht mehr sehr weit«, sagte Nils Norby, als sie ihre Reise fortsetzten.
Sie folgten einem Bach, der zu einem Flüsschen anwuchs, ein bestens geeigneter Wegweiser, denn er führte direkt nach St. Peter. Gruppen mächtiger Tannen stemmten sich aus der Erde, doch die Bäume standen nicht mehr sonderlich dicht. Viele Sträucher und Büsche, aber immer wieder war die Sicht frei. Vom Wagen aus verfolgte Bernina, wie Nils in einer kleinen Talsenke verschwand. Die Fuhrwerke quietschten und rumpelten. Am Himmel erspähte sie einen Schwarm Krähen, die wie aus dem Nichts Gestalt angenommen zu haben schien, etwa ein halbes Dutzend von ihnen; das tiefschwarze Gefieder glänzte im Licht der Sonne. Eben noch ließen sich die Vögel ruhig in der Luft tragen, ehe sie unvermittelt begannen, wie auf ein geheimes Kommando, wild mit ihren Schwingen zu schlagen, als wollten sie ein Signal geben oder auf etwas hinweisen. Dazu stießen sie schrilles Krächzen aus, das Bernina unter ihrer Haut zu spüren meinte.
Plötzlich wurden die Laute der Krähen überdeckt von einem gewaltigen Krachen. Musketenschüsse, mehrere, gleichzeitig abgefeuert, ebenfalls wie auf Kommando, und in ihr Verklingen mischte sich der Schmerzensschrei eines Mannes. Pulverqualm sammelte sich über einigen Sträuchern, die Bernina zuvor gar nicht beachtet hatte. Flammenpfeile zischten durch die klare Spätsommerluft und verbissen sich in den Planen der Wagen. Männer, bekleidet mit bunten Landsknechtshosen und speckigen Lederwamsen, rannten auf einmal umher.
Bernina sprang in dem Moment vom Wagen, als sich Hermann Lottinger auf einen der Fremden stürzte und ihn zur Erde riss. Ihr verzweifelter Blick fiel auf Nils Norby, der in wildem Galopp aus der Talsenke auftauchte. Seine Degenklinge fand einen der Angreifer, ein entsetzliches Gebrüll des Getroffenen, Blut spritzte auf, und erst jetzt schwang Nils sich aus dem Sattel, den nächsten Gegner im Visier.
Bernina lief los, wollte zum zweiten Wagen, doch was sie dann sah, ließ sie vor Schreck abrupt stehen bleiben. Mentiri lag auf dem Rücken im Gras, vollkommen regungslos, Beine und Arme von sich gestreckt. Und Ferdinand, in einer Hand einen Degen, in der anderen einen Knüppel, wehrte sich seiner Haut gleich gegen zwei Angreifer.
Unterdessen stürmte einer der Fremden auf Mentiri zu. Der Mann warf seine bereits abgefeuerte Muskete fort und zog eine schwere Pistole – für den zweiten Schuss, der Endgültigkeit bringen, der keine Zweifel am baldigen Tod lassen sollte. Bernina rannte wieder los. Eine bleierne Gewissheit überkam sie, dass der Weg zu weit für sie war. Sie erkannte noch Leben in Mentiri, der sich mühsam auf die Ellbogen stützte. Seine Augen waren trüb von Hoffnungslosigkeit, als er dem Fremden entgegenstarrte, der nun, da er nahe genug an seinem Ziel war, innehielt und mit der Pistole zielte.
Die Sonne blendete Bernina, sie hob die Hand, in ihrer Kehle wuchs ein Aufschrei der Wut und der Verzweiflung, und auf einmal war noch jemand da, katzenhaft, blitzschnell: Alwine.
Die junge Frau warf sich in die Bahn der Kugel, der Schuss löste sich donnernd. Sie zuckte zusammen und brach genau über Mentiri zusammen, der laut aufstöhnte.
Bernina rannte weiter, auch wenn es sinnlos war, völlig sinnlos – sie sprang nach vorn, riss den Schützen zu Boden, dessen Pistole und Hut davonflogen. Sie wälzte sich auf ihn, schlug dabei unablässig auf sein Gesicht ein, aus dem ihr zwei völlig verblüffte Augen entgegenfunkelten. Er war jung, breitschultrig, ein leuchtend roter, hochgezwirbelter Schnurrbart verlieh ihm etwas Wildes. Wie von Sinnen trommelte Bernina weiter mit ihren Fäusten auf ihn ein. Jetzt allerdings gelang es ihm, ihre Handgelenke zu packen. Er wirbelte sie herum, lag nun über ihr, versetzte ihr einen kräftigen Hieb und kam gewandt auf die Beine. Fast schon lässig zog er den Degen aus der Scheide, seine Züge von Zorn erfüllt, die Schnurrbartenden bebten.
Wie gelähmt starrte Bernina auf die silbern glitzernde Klinge.
Auf einmal war Norby da, mit vollem Schwung, seinerseits mit erhobenem Degen, der Fremde jedoch tauchte pfeilschnell unter dem Angriff weg, Nils verlor das Gleichgewicht und landete auf der Erde. Unterdessen war Bernina aufgesprungen, ein rascher Griff, die Pistole des Fremden in ihrer Hand, sie schlug mit aller Kraft zu, der Lauf traf mit einem dumpfen Laut auf den roten Haarschopf –
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