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Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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Verletzungen machten ihm ebenfalls zu schaffen.
    Aber er hielt durch.
    Der Gedanke an Bernina trieb ihn an, hinzu kam das Wissen um die Tatsache, dass Freiburg nicht weit entfernt lag. Sein Wille war längst nicht gebrochen, selbst wenn die Erschöpfung seine Glieder bleischwer werden ließ. Erst jetzt, im Schein der tief stehenden Morgensonne, bekam Nils Norby ein Gefühl dafür, wie gut die Belagerung geplant war, wie eng der Ring gezogen war, der sich um Freiburg formte. So dicht, dass er auch den Besatzern nicht mehr entgehen konnte.
    Doch jetzt spielte das für die Angreifer keine Rolle mehr. Sie würden nicht mehr im Verborgenen handeln, im Gegenteil. Der Ausbruch der Gewalt ließ mit Sicherheit nicht lange auf sich warten. Norby konnte den Kampf riechen wie den eigenen Schweiß, der an seinen Schläfen klebte, er wusste um diese besondere Atmosphäre, diese Zeit scheinbarer Friedlichkeit, ehe das Blut floss.
    Der Trupp, dem er zugeteilt worden war, erhielt den Befehl, die Arbeiten einzustellen. Auf einer Lichtung inmitten eines dunklen Tannenwaldes lagen und hockten entkräftete Gestalten, für deren Bewachung lediglich eine Handvoll Bewaffneter nötig war. Am Rande der von hohem Gras und wuchernden Wildblumen bewachsenen Fläche befand sich eine kleine Gruppe Verletzter – offenbar war die Gefangennahme der Leute nicht reibungslos verlaufen. Blutbefleckte Kleider und leidvolles Stöhnen ließen keine Zweifel daran.
    Norby saß erschöpft im Gras. Die Geräusche ringsum vermischten sich zu einem dumpfen, kaum wahrnehmbaren Brummen. Er genoss die Bewegungslosigkeit, versuchte, neue Kraft zu schöpfen. Sein Magen grummelte, er atmete tief ein und aus. Er rieb die Hände aneinander, man hatte es nicht einmal für nötig befunden, ihm Fesseln anzulegen. Wenn die Wachposten wüssten, dass er einst ein bekannter und gefürchteter Offizier in schwedischen Reihen gewesen war … Ein müdes Grinsen schlich sich auf seine Lippen.
    Als er in den Himmel blickte, meinte er, in beträchtlicher Höhe eine Krähe zu erkennen, die mit schnellem Schwingenschlag in Richtung Freiburg davonzog. Könnte ich dich doch nur begleiten, dachte er, und im Fluge jedes Hindernis überwinden.
    Eine Stimme drang an sein Ohr, heiser und schwach, und völlig verblüfft stellte er fest, dass sie seinen Namen rief.
    »Herr Norby, Herr Norby.«
    Er schaute sich um. Die Stimme kam zweifellos aus Richtung der Verletzten, die man schnurgerade nebeneinander aufgereiht hatte, als könne man es nicht erwarten, sie in Gräber zu werfen. Die Rufe verklangen. Langsam erhob sich Norby. Mit unauffälligen Seitenblicken behielt er die Wachsoldaten im Auge, während er sich den Verletzten näherte.
    Stille lag über dem Gefangenenlager, über dem gesamten Schwarzwald, wie es schien. Die Bewacher beobachteten ihn jetzt, ihre Waffen einsatzbereit, aber sie ließen ihn gewähren – schließlich machte er keine Anstalten, die Fußfessel zu lösen. Ohnehin schien keiner in diesem behelfsmäßigen Lager über die Kraft zu verfügen, einen Fluchtversuch zu wagen. Die Hitze des Morgens senkte sich auf die Lichtung herab wie ein großes Tuch. Weiterhin diese Ruhe.
    Einen nach dem anderen betrachtete Norby die Verletzten. Es handelte sich um Menschen mit teurerer Kleidung und um einige junge Männer, die wie Söldner aussahen – offensichtlich hatte man eine Reisegruppe samt ihrer Schutztruppe überwältigt.
    »Herr Norby.«
    Erneut diese schwache Stimme. Norby näherte sich der einzigen Frau unter den Verletzten. Sie lag auf dem Rücken, das Haupt auf eine kleine Tasche gebettet. Der Stoff über ihrem Bauch war zerfetzt und von Blut getränkt. Offenkundig hatte sie ein Geschoss erwischt. Ihre Wangen waren weiß, ihr ganzes Gesicht schweißnass. Aus trüben Augen starrte sie zu ihm hoch.
    »Sie sind es tatsächlich«, flüsterte sie. »Ich dachte schon, ich träume. Dabei ist das wahrlich kein traumhafter Tag.« Ihr Lachen erstarb in einem Hustenanfall.
    Er kniete sich neben sie. Es bedurfte keiner Untersuchung, um einschätzen zu können, dass sie die kommende Nacht nicht erleben würde. Norby hatte etliche Männer an Bauchschüssen sterben sehen, es war ein langsamer, qualvoller Tod. »Ja, ich bin es«, meinte er leise zu ihr. Mit gefühlvollem Ton und zugleich sanfter Ironie fügte er hinzu: »Beinahe hätte ich gesagt, dass es mich freut, Ihnen wieder einmal zu begegnen.«
    Erneut lachte sie, diesmal ohne husten zu müssen. »Das erste und einzige Mal sah ich

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