Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
zuzufügen, genoss dieser Mann einen beeindruckenden Ruf. Ein unschlagbarer Held mit schier übermenschlichen Fähigkeiten war er für seine Bundesgenossen, der Satan in Person für seine Feinde.
Außerhalb der Stadtmauern, am strategisch wichtigen Schönberg, kam es zu besonders heftigen Auseinandersetzungen. Blut floss auf beiden Seiten. Am westlichen Ausläufer des Schönbergs, dem Bohl, oberhalb von Ebringen, hatten sich Lorathots Truppen hervorragend verschanzt. Die Franzosen und die sie unterstützenden Schweden versuchten sich der Umklammerung zu erwehren, mussten jedoch schwere Verluste hinnehmen. Weiterhin durchdrang das Gebrüll der Kanonen die ganze Gegend, die Hitze des Sommers und die Kälte des Krieges rangen miteinander, die Furcht war wie mit Händen zu greifen.
Das konnten die Frau und der Gnom spüren, die sich durch die menschenleeren Gassen bewegten, entlang der Häuserzeilen, über Unrat hinweg, von niemandem beobachtet. Diese starre Furcht hielt auch den schäbigen Wirtshof fest im Griff, in dem die beiden untergekommen waren und den sie nun erleichtert erreichten. Die Ruhe im Haus wirkte seltsam angesichts des sonstigen Stimmengewirrs und Trubels. In der Gaststube waren zwar alle Tische von Übernachtungsgästen besetzt, doch keiner erhob das Wort. Mit in sich gekehrten Mienen, die Stirn zerfurcht von Sorgenfalten, wie Gespenster oder Puppen hockten sie Ellbogen an Ellbogen. Die im Flüsterton geführten Gespräche über Franz von Lorathot und bayerische Truppen, die Mutmaßungen über den Ausgang der Schlacht waren verstummt. Stattdessen schickten die Menschen, wie ihre Gesichter zeigten, stille Gebete zum Himmel.
Der Frau und dem Gnom schenkte man kaum Beachtung, auch der unfreundliche Wirt blickte nur kurz auf, als sie vor ihn traten. Bernina erkundigte sich, ob ihr Mann oder ihre Freundin in der Zwischenzeit hier aufgetaucht wären, bekam jedoch lediglich ein Kopfschütteln zur Antwort. Ohne ein weiteres Wort durchquerte sie mit Baldus den muffelnden Raum, um sich in ihre Stube zurückzuziehen. Sie atmeten erst einmal durch und stärkten sich mit dem vom Petersthal-Hof mitgebrachten Proviant.
Während ihr Körper zur Ruhe kam, begann Berninas Geist sich zu regen, und die Gedanken, die sie ihre Gefangenschaft über im Frauenhaus beschäftigten hatten, kehrten zurück. Sie dachte an Helene und an Nils, immer wieder an ihn. Sie war kalt ihm gegenüber gewesen – und das versetzte ihr nun einen Stich. Unwillkürlich kam ihr Gotthold von Mollenhauer in den Sinn sowie das geheimnisvolle Haus im Gerberviertel.
Es gibt noch so vieles zu tun hier, so vieles.
Es gibt Dinge, die bedeutender sind.
Von Mollenhauers Worte schienen sie zu verfolgen, in ihrem Kopf herumzuschwirren wie Mücken. Die Geschichte des Bibliothekars namens Jan Simons. Die Andeutungen von Mollenhauers. Seine gespreizten Ausführungen, die eher Fragen aufwarfen, denn Erkenntnisse boten. Zäh verstrich die Zeit, die Ungewissheit nagte an Bernina, während der Schlachtenlärm vor den Toren der Stadt nicht leiser wurde. Ja, diese losen Fäden. Etwa die gestohlene Chronik ihres Vaters, Robert von Falkenberg. Woher wusste von Mollenhauer Einzelheiten aus ihrem Leben? Woher von der Krähenfrau, ihrer Mutter? Gut möglich, dass er bereits in der Chronik gelesen hatte – doch darin fanden sich kaum Angaben zu Bernina selbst, die Schrift war ja wesentlich früher verfasst worden. Er musste auf andere Weise Nachforschungen angestellt haben.
Bernina blickte auf. »Du beobachtest mich, Baldus?«
»Tut mir leid, ich wollte nicht aufdringlich erscheinen.« Doch er wirkte nicht gerade schuldbewusst.
Sie saßen einander gegenüber auf zusammengefalteten Decken. Stühle oder Hocker gab es nicht.
»Du versuchst gerade, meine Gedanken zu lesen«, sagte Bernina.
»Das ist gar nicht einmal schwer.« Seine Miene veränderte sich. »Einige Jahre sind es nun schon, die ich auf dem Petersthal-Hof verbringe. Sie haben mir eine Anstellung gegeben, was andere Menschen niemals auch nur in Erwägung gezogen hätten. Und damit haben Sie Vertrauen in mich bewiesen.«
»Baldus«, meinte Bernina, leicht verwundert. »Was ist mit dir? So ernsthaft kenne ich dich gar nicht.«
»Ich wollte das einfach nur sagen.« Er nickte. »Und da ist noch etwas: Was Sie auch vorhaben – ich bin dabei. Was Sie in Angriff nehmen – auf mich können Sie zählen.«
Sie lächelte. »Du hast mich mal wieder durchschaut?«
Verschmitzt zwinkerte er ihr zu. »Hier zu
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