Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
einen zähen Moment, bis Bernina begriff, dass sich Alwine auf Fronwieser gestürzt hatte. Ihre Finger krallten sich in sein Gesicht, er versuchte sie abzuschütteln, sie schlug auf ihn ein, zerkratzte seine Wangen, schrie wie von Sinnen.
Bernina gelang es, unter den beiden hervorzukriechen, mühsam schob sie ihren Körper rücklings auf das Messer. Sie rieb die Stofffesseln an der Klinge, während Alwine unermüdlich auf Fronwieser einschlug. Genau in dem Moment, als er die Frau abschüttelte, durchtrennte Bernina die Fesseln. Sie schnellte hoch, im Liegen versuchte er, nach ihr zu grapschen, doch sie versetzte ihm einen Tritt ins Gesicht, der ihn zurückprallen ließ.
Ohne noch einmal auf ihn zu achten, rannte Bernina ins Nebenzimmer.
»Du bleibst hier!«, kreischte er und hüpfte hinter ihr her, unglaublich flink und gewandt.
An der Tür zum Gang erwischte er sie doch – im selben Sekundenbruchteil ein trockener Knall.
Fronwieser lag auf dem Boden.
Ein Rinnsal aus Blut floss aus seinem Kopf und bildete bereits eine Lache. Alwine trat heran. In den schmalen Händen hielt die junge Frau die Krücke, mit der sie zugeschlagen hatte. Voller Hass starrte sie Bernina an. »Verschwinde«, fauchte sie. »Hau endlich ab! Ich will dich nicht mehr sehen. Nie wieder! Wenn wir uns noch einmal begegnen, schneide ich dir die Kehle durch.«
Bernina schluckte, sagte jedoch keinen Ton. Sie hielt den lodernden Augen stand, ehe sie ein letztes Mal auf den reglosen Mann blickte. Atmete er noch? Es sah nicht danach aus. Sie wandte sich ab. Mit flinken Schritten rannte sie den Gang hinab, dann die schiefen Stiegen, hinein in eines der Zimmer. Ein fettbäuchiger, bärtiger Kerl – einer aus Fronwiesers üblem Gefolge – ruhte schnarchend auf einer Matratze, aus der Stroh quoll. Direkt neben seinem aufgequollenen roten Gesicht lag eine leere Flasche. Der Gestank von Branntwein, genau wie oben.
In eine Ecke drückte sich, verschnürt wie eben noch sie selbst, der Knecht des Petersthal-Hofes.
Das Gesicht blutverschmiert, ein Auge geschwollen, starrte Baldus zu ihr hoch. Offenbar hatte man ihn getreten.
Rasch befreite sie ihn von seinen Fesseln.
»Schnell weg von hier«, meinte Bernina leise.
»Nichts dagegen«, war alles, was er antwortete. Weder Überraschung noch Erleichterung ließ er sich anmerken – wie immer gelang es ihm spielend, sich geistesgegenwärtig auf die neue Situation einzustellen.
Sie betraten die Gasse, mussten sich erst einmal zurechtfinden, ehe sie losliefen, schnell, sehr schnell, die Spitze des Münsters als Orientierungspunkt im Auge behaltend.
»Zurück zu der Herberge, oder?«, rief Baldus aus.
»Ja, natürlich«, gab Bernina rasch zurück. Ihre Gedanken galten ihrem Mann. War Nils in der Zwischenzeit aufgetaucht? Und Helene? Was war mit ihr?
Als sie um die Ecke eines alten Fachwerkhauses bogen, ertönte ein Krachen, das von einem Donnern beantwortet und immer wieder aufs Neue erwidert wurde.
Sie hielten inne, sahen sich an.
Musketenfeuer. Irgendwo in der Nähe. Gleich darauf das gewaltige Wummern einer Kanone, einer zweiten, einer dritten.
»Es ist so weit«, raunte Baldus. Sein Atem ging schnell, während seine kurzen, krummen Beinen trippelten. »Die Kämpfe beginnen.«
Bernina blickte in den wolkenlosen Himmel. Hoch über ihren Köpfen ließ sich eine Krähe mit gespreizten Schwingen vom leichten Sommerwind tragen. »Ja, der Krieg ist da. Und wir können nur noch hoffen, dass er uns nicht verschlingt.«
Kapitel 4
Das Grollen des Ungeheuers
Die Stadt schien sich zu ducken wie ein zu Tode erschrockenes Lebewesen. Verrammelte Türen und Fenster, leere Straßen. Nur hier und da hallte das Trommeln der Sohlen vereinzelter französischer oder schwedischer Besatzer wider. Der Himmel war strahlend blau, noch nicht verschmutzt von grauem Pulverqualm. Freiburg hielt den Atem an. Obwohl die Gefahr schon die ganze Zeit bedrohlich über den Dächern geschwebt hatte, schien der Einzug des Krieges dennoch vollkommen zu überraschen. Als würde der Dämon eines wiederkehrenden böses Traums plötzlich leibhaftig zur Tür hereinschreiten.
Ein Name geisterte durch die Häuser, ein Name hielt alle in Bann. Der Oberbefehlshaber der verbündeten kaiserlichen und bayerischen Truppen, die Freiburg in die Zange nahmen, war niemand anders als Feldmarschall Franz von Lorathot. Seit dem November des Vorjahres, als es Lorathot gelungen war, der französischen Armee bei Tuttlingen eine verheerende Niederlage
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