Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Prag.«
»Und wieder einmal liegen Sie mit einer Annahme richtig, Bernina.« Von Mollenhauer lächelte. »Ja, die Ereignisse in Prag waren lediglich die Vorgeschichte zu Geschehnissen, die sich einige Jahre später zutrugen und damit ebenfalls sehr, sehr lange zurückliegen. Erneut geht es um Tage, in denen die Welt in Flammen stand, und erneut geht es um unseren Bibliothekar Jan Simons. Übrigens ist abermals eine wunderschöne Stadt der Schauplatz. Diesmal blicken wir nach Heidelberg.«
*
Wie ein Lauffeuer verbreitete sich die Nachricht durch die ganze Stadt, von Tür zu Tür, von Mund zu Mund, von reich zu arm. Ein Heer rückte auf Heidelberg vor. In fieberhafter Eile wurden Vorkehrungen für den drohenden Angriff getroffen.
Einzig Jan Simons, der Bibliothekar, reagierte mit Gefasstheit. Seit den Erlebnissen Jahre zuvor in Prag hatte er sich dazu erzogen, die Nerven zu behalten – egal, was sich der große Krieg einfallen ließ.
Viel hatte sich für Jan Simons getan seit Prag. Er war ein anderer geworden, hatte die neuen Kontakte genutzt, um noch tiefer in das Reich des Wissens und der Bücher einzutauchen. Gewisse Herren hatten seine Fähigkeiten erkannt und ihn gefördert.
So lernte er nicht nur den Krieg kennen, sondern auch die Köpfe, die diesen Krieg führten und lenkten, die über das Schicksal unzähliger Seelen entschieden, die einander bekämpften und sich verbündeten, um sich gleich darauf wieder zu entzweien. Mal war Simons für diesen, dann für jenen tätig, als Informant, Ratgeber und Scharlatan, als Beschaffer von Schriften, als Aufspürer von Geheimnissen, als wandelndes Nachschlagewerk. Und nicht zuletzt als Sammler. Er war ein Mann, der Bücher anhäufte, um sich an ihnen zu laben wie andere an vorzüglichem Wein, allerdings auch, um sie weiterzuverkaufen und Geschäfte mit ihnen zu treiben – was jedoch sein Geheimnis war. Schillernde Kleidungsstücke gab es für ihn nicht mehr, mittlerweile kam es ihm auf unauffälliges Auftreten an. Unter etlichen Namen war er unterwegs, in gut zwei Jahren an mehr Orten gewesen als in seinem gesamten Leben zuvor.
Die Liebe hatte er dabei nicht wiedergefunden, gar nicht erst gesucht, stattdessen war er tiefer und tiefer eingetaucht ins Ränkespiel der Mächte, ohne sich je auf eine Seite zu schlagen. Wer ihn bezahlte, war ihm egal. Eine Überzeugung hatte er nicht. Wissen und Geld zu mehren, das war es, was für ihn zählte.
Inzwischen betrieb er alchimistische Studien, er nutzte mit Alaun hergestellte Geheimtinte, um Nachrichten weiterzugeben, er verfügte über erste Verkleidungen – und ging dennoch weiterhin seinem rechtschaffenen Beruf nach, der ihn, unter Einflussnahme bestimmter Herren, vor Kurzem nach Heidelberg geführt hatte. So konnte er auch gar nicht überrascht sein von den schrecklichen Neuigkeiten über die vordringenden Truppen. Wäre nichts Bedeutsames im Gange, hätte man ihn schließlich nicht hierher gelotst: an die ehrwürdige Kurfürstliche Universitätsbibliothek, die Bibliotheca Palatina.
Doch die Zeit war – wie so oft in diesem Krieg – knapp geworden. Die Belagerung durch die feindlichen Truppen hatte eingesetzt, die ersten tödlichen Auseinandersetzungen waren in vollem Gange, als Jan Simons mittels einer Brieftaube einen verschlüsselten Befehl erhielt. Simons war sich bewusst darüber, dass er rasch handeln musste, wie jedes Mal, wenn er es mit Auftraggebern wie den jetzigen zu tun hatte. Und ihm war ebenso klar, dass er mitten in ein höllisches Inferno geraten konnte.
Unterdessen setzte die angreifende Armee der Stadt zu, Heidelberg erzitterte, und Jan Simons lief mit wehenden Rockschößen zwischen den endlos scheinenden Bücherregalen der Bibliothek hindurch, in Gedanken überschlagend, wie er vorgehen sollte. Dieser Arbeitsplatz ließ Simons’ Herz so heftig trommeln wie keiner zuvor, nicht einmal die Prager Bibliothek. Heidelberg war seit 1386 Universitätsstadt, und die Kurfürsten hatten immer wieder beträchtliche Summen aufgewandt, um der Hochschule die notwendigen Mittel zukommen zu lassen. Daher besaß die Bibliothek einen unvergleichlichen Fundus von rund 3.500 Schriften, darunter das Lorscher Evangeliar aus der Hofschule Karls des Großen oder die Bilderhandschrift des Sachsenspiegels.
In jenem September 1622 wurde aus dem Erzittern Heidelbergs schließlich der endgültige Zusammenbruch. Die Belagerer setzten sich durch. Die Stadt wurde eingenommen, geplündert und zumindest in Teilen ein
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