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Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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hatten, und sich vom Alltäglichen überschwemmen lassen. Die Gesten der Zärtlichkeit wurden seltener, die Gespräche wurden seltener. Sie hatten es als selbstverständlich hingenommen, einander zu haben, statt ihre Verbundenheit zu hüten wie einen Schatz.
    Es war bitter für Nils Norby, sich dessen erst jetzt richtig bewusst zu werden, in dieser Nacht, irgendwo in der Nähe der Freiburger Stadtmauer. Ein Wirbelsturm aus Ereignissen hatte sie beide von ihrem Heim fortgerissen. Angefangen hatte es mit dem Auftauchen der drei Reiter und jenem Mann namens Mentiri – und nun … Nun wusste Norby nicht einmal, ob Bernina überhaupt noch am Leben war. Auch der Tod Helenes hatte ihm schwerer zugesetzt, als er es zunächst wahrgenommen hatte. Ein Mann war in Zeiten des Krieges nicht völlig hilflos. Aber Bernina … Wie mochte es ihr ergangen sein? Dass die Kampfhandlungen noch nicht im Kern Freiburgs angelangt waren, war der einzige Hoffnungsschimmer, an den Norby sich noch zu klammern vermochte. Doch wie rasch konnte sich das ändern.
    Bernina, wo bist du?, fragte er stumm, während er in den Himmel starrte. Der Gedanke an sie, die Sorge um sie, die schmerzliche Erkenntnis des Verlustes, das war es, was ihn davon abhielt, einfach die Augen zu schließen und dem Körper die Erholung zu gönnen, nach der er mit jeder Faser lechzte. So verlockend war das Flüstern des Schlafes, das sanft und einschmeichelnd an Norbys Ohren drang.
    Seine Lider waren bleischwer, sie fielen zu, und sofort waren wieder die Bilder bei ihm, die verzerrten Gesichter von feindlichen, längst verstorbenen Männern, gegen die er gekämpft hatte, das Antlitz seines Königs im Tode, einstürzende Mauern, Bilder von Blut und Gewalt, in die er zu fallen schien wie in einen Brunnen, dessen Schacht enger und enger wurde, Stimmen schrien auf, Kanonen donnerten, Degenklingen tönten wie helle Glocken.
    Dann war da noch eine andere Stimme, nicht sanft, sondern heiser und krächzend, sie befahl ihm, die Augen zu öffnen, nicht zu schlafen, nicht zu ruhen, nicht aufzugeben. Norby gehorchte. Er blinzelte ins Dunkel, für eine aberwitzigen Moment glaubte er, genau neben ihm würde sich eine Krähe mit wirbelnden Schwingen in die Lüfte erheben, den Blick auf ihn gerichtet. Nun war er vollends wach, sein Denken völlig klar. Endlich kamen ihm das Trockenfleisch und die schon leicht fauligen Äpfel in den Sinn, die er ebenfalls auf dem verlassenen Hof an sich genommen hatte, karge, zum Glück für ihn vergessene Reste in einem ansonsten leeren Vorratsschuppen.
    Er schlug seine Zähne geradezu in das zähe Fleisch, begierig auf die Kraft, die daraus auf ihn übergehen sollte. Nur ein paar Minuten, länger hatte er gewiss nicht gedöst, aber selbst diese kurze Zeit hatte ihm ein wenig geholfen. Er fühlte sich besser als zuvor. Nach dem raschen Griff zu Seil und Eisenhaken nahm er seinen Weg wieder auf, hin zu der Stadt, hin zu der Frau, die er im Labyrinth der Gassen zurückgelassen hatte. Lediglich ein paar Tage war das her – ihm kam es vor wie Jahre.
    So schlich er weiter durch die Nacht, eine einsame, erschöpfte und dennoch unbeirrbare Gestalt. Bald ragte die Mauer vor ihm auf, hoch und scheinbar unüberwindlich. Auf dem Wehrgang wurde patrouilliert, was Norby erwartet hatte, und er sah sich gezwungen, mit einer Geduld vorzugehen, die ihm nicht leichtfiel. Er wartete die Zeiten ab, an denen die Wachmänner die Stelle der Mauer passierten, unter der er sich im Gestrüpp verborgen hielt. Er zählte die Sekunden, lautlos, wie er zuvor Berninas Namen ausgesprochen hatte.
    Es blieb nur wenig Zeit, in der dieser Abschnitt der Mauer unbeaufsichtigt war. Viele Versuche würde er nicht haben. Höchstens einen oder zwei. Der Eisenhaken, an dem mittlerweile ein Seilende befestigt war, flog durch die Stille der Schwarzwaldnacht – und fand Halt am Mauerrand. Norby zerrte prüfend daran. Mit aller Kraft, die er noch in sich fühlte, überwand er die Mauer, Stück für Stück, ziehend, den Schweiß auf der Stirn.
    Gleich darauf folgte er im Laufschritt einer schmalen Straße. Kein Licht leuchtete, kein Geräusch außer seinem rhythmischen Atmen. Es dauerte nicht lange, bis er sich zurechtfand. Der Mond prangte groß und hell am Himmel, als Norby die schäbige Herberge erreichte. Langsam näherte er sich, das Seil aufgerollt um die Schulter, den Eisenhaken noch in der Hand.
    Das Haus verschmolz mit der dunklen Umgebung. Die Fenster waren mit Holzläden abgedeckt, die

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