Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
Opfer der Flammen. Ein ganz besonderer Schatz jedoch entging den Angreifern: Die Bücher der Bibliotheca Palatina zogen, versteckt unter Planen, im Morgengrauen des letzten Kampftages quasi unter den Augen der Sieger aus der brennenden Stadt ab. Die Gefährte waren getarnt als Beutewagen, die Männer, die die Maultiere zu Fuß am Zaumzeug führten, hatte der Bibliothekar bestochen. Seit 48 Stunden war er auf den Beinen, ohne eine Sekunde zu ruhen, ohne einen Bissen zu sich zu nehmen, und nun verschwand er, völlig erschöpft, als Pferdeknecht verkleidet am Ende der Bücherkarawane aus Heidelberg.
Auch auf der Kräfte zehrenden Reise gönnte er sich keinen Moment der Ruhe. Er hatte die Verantwortung über die bedeutendste Büchersammlung nördlich der Alpen, und von seinen Auftraggebern war ihm ein Furcht einflößend weit entferntes Ziel vorgegeben worden. Alles wollte er daransetzen, diese Angelegenheit, so schwierig sie sein mochte, erfolgreich zu beenden. Es würde sich für ihn auszahlen, das stand fest.
Jan Simons schaffte es. Trotz vieler kleiner Pannen und etlicher Unwegsamkeiten überwand der Maultiertreck sogar die mächtigen Alpen, um schließlich im Juni 1623 Rom zu erreichen. Und nur wenige der wertvollen Stücke waren auf der langen Strecke abhandengekommen. Papst Gregor XV. ließ die Ladung der Wagen voller Dankbarkeit als Sonderbestand in seine Apostolische Bibliothek aufnehmen.
Die Rettung der Bibliotheca Palatina war das Meisterstück des Jan Simons, eine Großtat, die seinen Namen in entscheidenden Kreisen noch bekannter machte. Er wurde von Herzog Maximilian I. von Bayern zur Audienz geladen, um seine Abenteuer bei gebratenem Fasan in allen Einzelheiten zu schildern. Maximilian hätte mit der Sammlung allzu gern seine eigene Hofbibliothek veredelt, doch dem Wunsch des Papstes hatte er sich beugen müssen: Gregor XV. war einer der wichtigsten Geldgeber des Böhmenfeldzuges gewesen, eine Tatsache, die sich nicht übergehen ließ. Umso beeindruckter war der Herzog von seinem Besucher, diesem erstaunlichen, hochgebildeten Mann, der unter großer Belastung schnellstens zu handeln verstanden und dazu enorme Ausdauer bewiesen hatte. Dass der Bibliothekar noch in Prag die protestantisch geführte Gegenseite unter dem böhmischen König unterstützt hatte, war Maximilian bekannt. Doch es kümmerte ihn nicht. Wer mehr zu zahlen bereit war, sicherte sich die besten Helfer in diesem Krieg, und dem Herzog war klar, dass Jan Simons in vielerlei Hinsicht nützlich sein könnte. Es empfahl sich, dieses Talent an sich zu binden. Ohnehin gab es viele Streiter, die öfter die Seite wechselten als die Kleidung. Sie unterhielten sich im Plauderton, aber jedes Wort, jede Silbe wurde abgewogen, geprüft, jeder Augenaufschlag zur Kenntnis genommen. Simons überraschte Maximilian mit seinem umfassenden Wissen. Bei diesem Gespräch hörte Maximilian zum ersten Mal von einer bestimmen Schrift. Sie wurde nur in einer nebensächlichen Bemerkung erwähnt, ging ihm allerdings nicht mehr aus dem Kopf, und in den Jahren, die folgten, sollte er versuchen, mehr über sie zu erfahren – ohne dass es ihm je gelungen wäre.
Jan Simons bedankte sich für die Einladung an den bayerischen Hof und ließ sich überaus großzügig entlohnen. Er verabschiedete sich von Maximilian mit einer tiefen Verbeugung und wandte sich neuen Treffen mit anderen wichtigen Edelleuten und damit neuen, ähnlich waghalsigen Aufgaben zu.
»Und schon wieder«, schloss die angenehme Erzählstimme Gotthold von Mollenhauers, »verlieren wir unseren Jan Simons aus den Augen, mitgerissen von den Stürmen seiner Zeit.«
Bernina betrachtete ihn. Ebenso wie Baldus war sie seiner Erzählung mit großer Aufmerksamkeit gefolgt. »Doch wer weiß«, bemerkte sie, »womöglich werden wir erneut von ihm hören.«
Von Mollenhauer räusperte sich, schaute sich um, als müsse er sich vergewissern, wo er sich befand. Dann lächelte er auf beinahe jungenhafte Weise. »Das ist gut möglich. Bei diesem Menschen ist offenbar mit allem zu rechnen.«
*
Je mehr das Pechschwarz den Himmel überzog, desto ruhiger wurde es ringsum. Nur vereinzelt Sterne, der Mond nichts weiter als ein kleiner fahler Fleck. Die Echos der vorerst letzten Schüsse verklangen irgendwo zwischen den umliegenden Bergkuppen. Selbst der Krieg schien heute einen Feierabend zu kennen. Der Flügelschlag von Nachtvögeln setzte ein, ein leichter Wind vertrieb die warme Luft des Tages und trug zugleich
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