Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
dich gibt, Herrgott, lass es Lorentz sein.« Als die Gestalt um die nächste Hausecke bog, raste Alwines Herz. Allerdings nicht vor Erleichterung, sondern aus dumpfer Enttäuschung.
Die Gestalt stoppte, schaute sich fieberhaft um – bis zu ihrem Versteck konnte Alwine das Rasseln der vor Anstrengung bebenden Lungen hören. Es war Gotthold von Mollenhauer. Er rannte weiter, die Straße hinab, am Brunnen vorbei, und in seine lauten Atemgeräusche mischte sich neuerliches Trommeln schneller Schritte. Ein Mann tauchte auf – von ihm war nicht das leiseste Keuchen zu hören.
Abgrundtiefe Furcht packte Alwine. Von Anfang an, als sie ihn und seine beiden Begleiter das erste Mal mit Lorentz hatte reden sehen, war sie von einem unguten Gefühl erfasst worden. Auch er passierte den Brunnen, im mühelosen Laufschritt, den Flüchtenden im Visier, das Gesicht unter dem Hut wie aus Stein gemeißelt, hart der Klang seiner Absätze auf dem Boden. Sein zerschlissener Mantel war so lang, dass er den Straßenstaub aufwirbelte. Ein kurzes Schimmern an seiner Hand, offenbar ein goldener Ring, ansonsten war alles an ihm dunkel, als wäre er ein Dämon und kein menschliches Wesen.
Alwine verfolgte, wie der Fremde noch schneller wurde, während von Mollenhauer deutlich an Geschwindigkeit einbüßte. Sie ahnte, was kommen würde. Von Mollenhauer blieb stehen, offenkundig völlig entkräftet. Es wirkte so, als lege er eine Hand übers Herz, Alwine erkannte es an dem angewinkelten Ellbogen, und schon war der andere bei ihm. Von Mollenhauer drehte sich herum, selbst auf die Entfernung war der Schrecken zu sehen, der sein Gesicht verzerrte.
Der Fremde hob den Degen. Von Mollenhauer versuchte, sich aufs Neue irgendwie in Sicherheit zu bringen und stürzte blindlings auf den Gewerbekanal zu. Umsonst – die Klinge erwischte ihn, sein Körper zuckte auf, unnatürlich schnell, als wäre von einem lautlosen, unsichtbaren Blitz getroffen worden. Mit einem Röcheln sank er zu Boden. Der andere schob den Degen in die Scheide und packte von Mollenhauer unter den Armen, um ihn zum Kanal zu schleifen und dort in die Tiefe zu werfen. Alwine hörte erst, wie der fallende Körper vom Gestrüpp abgefangen wurde, gleich darauf den platschenden Laut, als er im Wasser landete.
Der Fremde stand einfach da und starrte in den Kanal, nach wie vor beobachtet von Alwine. Geduldig und gelassen wirkte er, jedenfalls nicht, als hätte er gerade eben einen Menschen ermordet. Alwine wagte kaum, zu atmen. Der Mann drehte sich langsam um. Hatte er sie bemerkt?, fragte sich Alwine entsetzt. Doch im Nu lösten sich die Umrisse seiner Statur auf, geisterhaft ließ er sich von der Umgebung aufsaugen, wobei das Stakkato der Stiefelabsätze noch für kurze Zeit durch die Luft hallte.
Er war verschwunden.
Alwine kam aus ihrer Deckung hervor. Noch immer hielt sie den Atem an.
*
Aschgraue Qualmwolken verschmutzten das Blau des Himmels. Stunde um Stunde tobten die Kämpfe mit unverminderter Heftigkeit, ein scheinbar endloser Donner, der sich über die ganze Gegend stülpte.
Die Angreifer schätzten ihren Befehlshaber dafür, dass er sich niemals zurückzog, auch nicht im größten Schlachtengetümmel, wie es viele andere Feldherren taten. Franz von Lorathot war dort zu finden, wo Pulverdampf die Gesichter schwärzte. Er war Teil des wogenden Kampfes, in vorderster Linie, zu Pferde, dann zu Fuß, dann wieder bei einer schnellen Beratung mit den Offizieren, stets das große Ganze im Blick. Ja, das war der Krieg, das war das Leben, hier war kein Platz für Träumer und Wirrköpfe, die aberwitzige Pläne ausbrüteten. Die Welt war ein Schlachtfeld, man konnte nicht einfach tun, als ließe sich daran etwas ändern, im Gegenteil, die Welt wollte und musste umkämpft werden. Hörte man auf zu ringen, ginge man unter, würde man zermalmt von denen, die weiterrangen.
Franz von Lorathot war an jenem Sommertag alles andere als siegessicher, ebenso wie am Vorabend, und an Kurfürst Maximilians undurchsichtiges Vorhaben, nach Baden aufzubrechen, dachte er nicht mehr. Mit unablässig glimmender Wut sah er, dass der Verteidigungsring nicht aufweichte und sein Gefolge nicht so weit vordrang, wie er es geplant hatte. Kanonenkugeln hatten erste Löcher in die Stadtmauer gerissen, doch der Widerstand hielt. Aus der Ferne beobachtete von Lorathot, dass einfache Freiburger Bürger mit dem Degen gezwungen wurden, während des Kampfes Sturmkrüge über die Mauern zu werfen und
Weitere Kostenlose Bücher