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Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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lassen.« Nils ging los. »Ich hole den armen Wicht.«
    »Ich begleite dich.« Bernina folgte ihm bereits.
    »Nein«, widersprach er mit hartem Tonfall – wovon sie sich allerdings nicht aufhalten ließ.
    Als sie aus der Hintertür ins Freie schlüpften, war Baldus bei ihnen, der ebenfalls auf den Verletzten aufmerksam geworden war und ihre Absicht erraten hatte. »Nicht«, warnte er. »Zu gefährlich. Viel zu ge…« Sie waren schon draußen, er ließ das Wort verklingen und sprang zu einem Fenster an der Vorderseite, um alles beobachten zu können.
    Bernina kniete vor dem schwer verwundeten Mann, der mit Freiburger Zungenschlag vor sich hin fantasierte. Seine Augen waren verdreht, seine Hände wühlten im Blut, das aus einer Stichwunde in der Bauchgegend quoll. Abermals schrie er nach seiner Mutter und nach Simon.
    Neben Bernina stand Nils, den Degen in der Hand, die Umgebung im Auge behaltend. »Er wird es nicht mehr lange machen«, lautete sein nüchterner Kommentar.
    »Wir können ihn nicht seinem Schicksal überlassen«, wiederholte sie ihre eigenen Worte.
    Nils drückte ihr den Degen in die Hand, beugte sich zu dem Mann herab und hob ihn ebenso mühelos wie schnell auf.
    Gewehrfeuer erklang in einer nahe gelegenen Gasse.
    »Überall scheinen Soldaten unterwegs zu sein, in jeder Ecke der Stadt«, raunte Bernina.
    »Kleine versprengte Gruppen«, antwortete Nils. Das Gewicht des jungen Mannes schien ihm trotz der letzten Anstrengungen kaum etwas auszumachen, als sie auf von Mollenhauers Haus zueilten.
    Nachdem sie im Inneren verschwunden waren und Baldus die Tür wieder verrammelt hatte, legte Nils den Verletzten auf dem Sofa ab, auf das er sich zuvor mit Bernina zurückgezogen hatte. Draußen wurde der Kampflärm wieder lauter. Im gesamten Haus brannte nur ein Kerzenstummel, den Bernina neben dem Sofa aufgestellt hatte, um die Wunde des Fremden besser untersuchen zu können. Sie reinigte sie, legte einen Verband an, benetzte den Mund des Mannes mit Wasser. Sein Atem ging ruhiger, außerdem fantasierte er nicht mehr.
    Die Zeit verrann zäh. Wenn der Krieg tobte, schien jede einzelne Sekunde an Gewicht, an Bedeutung, an Größe zu gewinnen. Schüsse und Schreie, Schreie und Schüsse. Aus einem der Nachbarhäuser zuckten Flammen, und eine Traube aus Menschen versuchte, mit Eimern und Tierblasen in den Händen, die mit Wasser gefüllt waren, dem Feuer Einhalt zu gebieten. Nils ließ Baldus zum Schutz bei Bernina, mischte sich unter die Helfenden und bildete mit ihnen eine Kette, in der die Eimer weitergereicht wurden. Der Brand durfte sich unter keinen Umständen auf die angrenzenden Gebäude ausbreiten, sonst würde bald das gesamte Viertel in Schutt und Asche liegen.
    Unterdessen blieb Bernina an der Seite des Unbekannten, sie wischte ihm den Schweiß von der Stirn, redete ihm gut zu, leise und beruhigend, mehr vermochte sie nicht zu tun.
    Nach einiger Zeit erschien Nils wieder an ihrer Seite, die Wangen vom Feuer geschwärzt, aber mit der guten Nachricht, dass das Feuer gelöscht worden war. Er hockte sich auf den Boden, den Rücken ans Sofa gelehnt. Zu zweit lauschten sie dem jäh ins Bewusstsein zurückgekehrten Verletzten, der erzählte und erzählte, von seiner Zeit als Tischlergeselle, von seiner Zwangsrekrutierung durch die französischen Verteidiger nur wenige Tage zuvor, von seinem Kameraden Simon, dem das halbe Gesicht weggeschossen worden war. Wem er das alles berichtete, das war ihm nicht klar, aber immer, wenn er Bernina wahrnahm, strahlte er vor Dankbarkeit. Immerzu nannte er sie Mutter und wenn er nach Simon fragte, zeigte Bernina auf Nils, was der junge Mann mit zufriedenem Nicken quittierte.
    Gegen Morgengrauen wurde er ohnmächtig. Der Schlachtenlärm erstarb. Kein einziger Schuss fiel mehr. Die Ruhe erschien so ungewohnt, so fremdartig, dass Bernina zunächst ihrem eigenen Gehör misstraute. Die Kerze war niedergebrannt, doch der erwachende Tag sandte etwas Licht ins Innere des Hauses. Entkräftet ließ sich Bernina neben Nils nieder, der schon vor einiger Zeit eingeschlafen war. Er schlug die Augen auf und gab ihr einen Kuss. Sie zog an den kreuzweise angebrachten Kordeln, die sein Hemd geschlossen hielten, um es ein wenig zu öffnen. Mit den Fingerspitzen strich sie unglaublich sanft über seine schorfigen Verletzungen, als könne sie deren Heilung dadurch beschleunigen. Sie fuhr über seine verschmutztes Gesicht, durch sein Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, sie spielte mit der

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