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Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)

Titel: Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Becker
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geschieht vieles, wofür wir niemals eine Erklärung finden werden. Und sie hat recht gehabt, da bin ich mir sicher.«
    Nils Norby schlang seine Arme enger um ihren Körper, er küsste sie, wilder als zuvor. Seine Hände glitten unter den Stoff von Berninas Kleid, Schauer durchfuhren sie, ihre Haut schien zu vibrieren. Da, wo sie waren, auf dem Boden, neben dem Sofa mit dem Schwerverletzten, der inzwischen laut schnarchte, streckten sie sich aus, drückten sie sich immer enger aneinander. Erst jetzt wurde Bernina, gepackt von Erschöpfung, Glück und den Schrecken der überstandenen Nacht, endgültig klar, wie sehr sie Nils vermisst hatte. Und wie sehr sie das Gefühl entbehrt hatte, was es bedeutete, das eigene Leben mit all seiner Kraft zu spüren.
     
    *
     
    Jäh erwachte sie.
    Neben ihr der Mann, den sie liebte, in tiefem Schlaf, entspannt die Züge seines Gesichtes. Berninas Lider flatterten, wie erschlagen fühlte sie sich, sie konnte nicht länger als eine Stunde geruht haben, das spürte sie. Noch immer lagen sie auf dem Boden, wo ihnen die Augen irgendwann einfach zugefallen waren. Auf dem Sofa schnarchte nach wie vor der unbekannte Soldat, laut und regelmäßig, aber das war es nicht, was Bernina aus dem Schlaf gerissen hatte.
    Sie erhob sich, sorgsam darauf bedacht, Nils nicht zu wecken. Das Licht, das den Raum erhellte, war noch fahl und schwach – früher Morgen.
    Stimmen, gedämpfte Stimmen, deren eigentümlicher Klang irgendwo draußen um das Haus schwebte, ein Gesang, eindringlich und sanft, und doch auch geradezu gespenstisch. Was war das?
    Bernina begab sich ans Fenster, lugte am schützenden Holz vorbei ins Freie, doch die Straße war leer, abgesehen von den Soldaten, die hier nachts den Tod gefunden hatten. In der Dunkelheit hatten Ratten und vielleicht andere Tiere an ihnen genagt und gezerrt. Der Gesang wurde lauter, und Bernina konnte sich des Zaubers, der von ihm ausging, nicht erwehren. Leise verließ sie das Zimmer, leise ging sie die Treppe nach unten, wo sie von Baldus erwartet wurde, der noch nicht einmal sonderlich verschlafen oder müde wirkte.
    »Sie haben das also auch gehört«, schloss er.
    »Merkwürdig.«
    »Klingt unheimlich, als würde das Ende der Welt angekündigt.«
    Bernina öffnete vorsichtig die Hintertür und schob sich nach draußen.
    »Sie wollen doch wohl nicht nachsehen?«, entfuhr es Baldus. »Das ist gefährlich, viel zu gefährlich.«
    An der frischen, noch nicht von Qualm und Pulverdampf geschwängerten Luft, erschien der Klang der Stimmen gleich noch eindringlicher. Und Bernina konnte einfach nicht widerstehen: Sie umrundete das Haus, ein weiterer Warnruf Baldus’ verklang, und beim Betreten der Straße erblickte sie die Ratten, die tatsächlich ihre langen, widerlichen Zähne in die Toten gruben. Die Tiere fraßen weiter, stoben erst auseinander, als eine Menschenkolonne in die Gasse einbog, im gemächlichen Trott, angeführt von einem Benediktinermönch, bekleidet mit der typischen Kukulle, deren Stoff reichlich abgewetzt war. In den Händen trug er eine aufgeschlagene Bibel und ein Kruzifix, seine Augen waren fast geschlossen, voll und klar sein Gesang, in den die Männer und Frauen einstimmten, die seinem Weg folgten. Ohne einmal aufzusehen, schritt er die Straße hinab, der Gesang, der ihn aus etwa 20 Kehlen begleitete, wurde lauter, einnehmender.
    »Ein Zug der Verzweifelten«, bemerkte Baldus, der neben Bernina aufgetaucht war, ohne dass sie ihn bemerkt hätte. Gebannt starrten sie auf die Menschen, die ihrerseits auf nichts und niemanden achteten. Den Schluss bildeten drei Männer mit nackten Oberkörpern, die sich mit ledernen Riemen geißelten.
    »Sie beten gegen den Krieg an«, raunte Bernina, während sie sich gemeinsam mit dem Knecht hinter die Mauern des Hauses zurückzog. »Sie versuchen, die Gewalt mit Kirchgesängen zu vertreiben.«
    »Sehr fromm«, murmelte Baldus und machte ein hastiges Kreuzzeichen. »Doch bezweifle ich, dass sich das Böse beeindrucken lassen wird. Satan hat das Kommando übernommen – und wenn er erst mal da ist, wird man ihn nicht so schnell los.«
    Bernina gab keine Antwort.
    Ein Lied wechselte fast ohne Übergang ins nächste, untermalt vom stoischen Rhythmus der Hiebe, die Blut aufspritzen ließen, langsam, ganz langsam, verschwand die düstere Prozession im Gewirr der kleinen schiefen Bauten, als hätte es sie gar nicht gegeben. Und sogleich wurde der Gesang, eben noch fest und klar in der Morgenluft, vom Einsetzen

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