Die Entscheidung der Krähentochter: Historischer Kriminalroman (German Edition)
einzelnen grauen Strähne darin.
Es war ergreifend für Bernina, als würde sie ihn zum ersten Mal ansehen, als wäre er neu in ihr Leben getreten, und vielleicht war er das auch, in jener Sekunde, die sie jetzt noch in sich fühlen konnte, jene unbeschreibliche Sekunde, als er das Kellergewölbe betreten hatte, in dem zuvor Konrad von den beiden Eindringlingen erschossen worden war. Man hatte sie und Baldus gefesselt – einer der beiden dunkel gekleideten Männer redete sogar davon, sie zu töten, um keine Zeugen zu hinterlassen. Doch schließlich begnügten sie sich damit, von Mollenhauer zu ergreifen und ihn nach oben zu zerren. Und dann war auch schon Nils da gewesen, völlig unerwartet, wie in einem Traum, der so schön war, dass er gar nicht wahr sein konnte – und dennoch war er es.
Wasser und Brotreste hatten sie an diesem Tag zu sich genommen, nicht mehr, und trotzdem verspürte Bernina keinerlei Hunger. Es genügte ihr vollauf, ihren Mann zu betrachten und ihm zuzuhören, als er seine Erzählung dort wieder aufnahm, wo er zuvor unterbrochen worden war, bis er erneut in einen Erschöpfungsschlaf fiel.
Aber selbst dieser Augenblick lange entbehrten Glücksgefühls war getränkt von Leid, denn Nils hatte ihr nicht nur von seinen Erlebnissen, sondern auch vom gewaltsamen Tod ihrer Freundin berichtet. Es brach Bernina das Herz, nie mehr mit Helene sprechen zu können, bittere Tränen stiegen in ihr auf. Nils jetzt nahe zu sein, war ein großer Trost. Plötzlich erschien es ihr vollkommen unglaublich, wie weit Nils und sie sich entfernt hatten. Und zwar innerlich, lange bevor all die unvorhersehbaren Ereignisse einsetzten. Wie hatten sie bloß dermaßen wenig miteinander sprechen können? Bernina hatte einfach keinen Zugang mehr zu ihm gefunden. Weder zu Nils noch zum Rest der Welt. Und nun war alles verändert. Lediglich ein paar Tage waren sie voneinander getrennt gewesen, aber diese kamen ihr vor wie eine Ewigkeit. Würden sie ausgerechnet hier, im Herzen dieses schrecklichen Krieges, eine Möglichkeit finden, neu anzufangen? Vielleicht war es nicht ihr Schicksal, in diesem Haus zu sterben, vielleicht sollte sie hier auf verrückte Weise neu geboren werden. Gemeinsam mit Nils.
Bernina hoffte es, hoffte es inständig.
Anfänglich hatte sie außerdem die Hoffnung gehabt, dass Gotthold von Mollenhauer wieder auftauchen würde. Doch mit jeder Sekunde, die verstrichen war, nahm die Gewissheit zu, dass ihm etwas Schlimmes zugestoßen sein musste. Er war ein alter Mann – wie hätte er seinem körperlich viel stärkeren Verfolger entkommen können? Was von Mollenhauer vorgehabt haben mochte, welcher Gestalt seine Planungen auch gewesen waren, es hatte ein böses Ende mit ihm genommen. Bernina erinnerte sich daran, wie niedergeschlagen und mutlos er plötzlich gewesen war, als sie die ersten donnernden Schüsse gehört hatten.
Sie stand auf, betrachtete den schlafenden Soldaten auf dem Sofa, und kuschelte sich von Neuem auf dem Boden an Nils, der erwachte und sie anlächelte. »Was ich dir vorhin schon die ganze Zeit sagen wollte: Ich kann immer noch nicht fassen, dass du so gut mit diesem wunderlichen Kerl umgegangen bist, mit diesem verrückten Sonderling.«
»Von Mollenhauer?«
»Oder Mentiri – oder wie immer du ihn nennst.«
»Gut umgegangen?«
»Du weißt, was ich meine. Er war so dreist, den Diebstahl deiner Chronik zuzugeben. Von Angesicht zu Angesicht. Und hat nicht einmal in Erwägung gezogen, dir das Werk zurückzugeben. Du hast dir das einfach bieten lassen. Das meine ich.«
»Das ist schon richtig«, gab Bernina zu, müde, doch auch glücklich, Nils bei sich zu wissen, ihn zu spüren. »Aber etwas Besonderes an ihm gab mir ein gutes Gefühl. Er hat meine Neugier geweckt, er wusste erstaunlich viel über mich und machte Andeutungen. Auch über meinen Vater. Alles war sehr rätselhaft.« Ein leiser Seufzer entwich ihr. »Er erzählte merkwürdige Geschichten. Man könnte sagen, es war eine Art Lebensbeichte. Von Mollenhauer war alles andere als ein Heiliger. Doch jetzt, im vorangeschrittenen Alter, hatte er einen großen Plan. Einen Plan, mit dem er Gutes bewirken wollte.«
»Und ausgerechnet die Familienchronik der Falkenbergs spielte dabei eine Rolle?« Zweifel waren in Nils’ Stimme zu hören.
»Bücher an sich spielten eine Rolle. Bücher, die einst gestohlen wurden, womöglich von von Mollenhauer selbst. Sie sind – zumindest ein Teil – noch im Keller zu finden. Doch er
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