Die Entscheidung
verließ. Ihr jüngster Sohn Sven lebte zwar noch, aber er hatte schon vor über sechzig Jahren der Siedlung den Rücken gekehrt, um allein durch die Welt zu ziehen. Johannas anderer Sohn Olaf war vor fünfzig Jahren auf der Jagd gestorben und ihre Tochter Anna war vor zwei Jahren eingeschlafen, ohne jemals wieder aufzuwachen.
Es erschien Johanna ungerecht, immer noch auf Erden wandeln zu müssen, während ihre Tochter friedlich ins Reich der Toten entschlummert war. Doch sie wollte nicht klagen. Immerhin ging es ihr gut, was sehr viel mehr war, als die meisten anderen in ihrem Alter behaupten konnten. Und es gab wahrhaftig wichtigere Probleme im Dorf.
Obwohl sie noch nicht müde war, beschloss Johanna auf ihrem Spaziergang eine Pause einzulegen. Sie setzte sich an den Rand des Weges und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Der Weg führte an einem Abhang entlang, wodurch Johanna freie Sicht bis hinunter in das Tal hatte, in dem sie lebte. Das Dorf lag sehr abgelegen und war nur zu Fuß oder mit dem Pferd erreichbar. Zugverbindungen oder Autoverkehr gab es nicht. Johanna konnte zwar Auto fahren, hatte aber nie sonderlichen Wert darauf gelegt. Es war ihr wichtiger, dass ihr Volk unter sich blieb.
Zufrieden lehnte sich Johanna zurück. Ihr Haar war schon lange ergraut, aber noch immer voll und weich. Ihre Arme und Beine waren in den letzten Jahrzehnten immer dünner geworden, aber sie funktionierten noch sehr gut. Ihre Schönheit war schon vor langer Zeit verwelkt und kaum noch etwas erinnerte an die begehrenswerte Frau, die sie einmal gewesen war. Die Zeit hatte ihren Tribut gefordert, und es hatte nichts gegeben, was sie dagegen hätte unternehmen können. Doch Johanna weinte ihrer Jugend nicht hinterher. Nichts währte ewig, auch wenn die Ältesten und ihre Anhänger sie das glauben machen wollten. Mit ihrem Schlaftrunk und der Verbindung, die angeblich für alle Zeiten halten sollte. Johannas Meinung nach war das alles nur eine Illusion. Sie persönlich war froh darüber, nicht mehrere tausend Jahre leben zu müssen. Sie hatte über hundert Jahre auf dieser Erde verbracht und eindeutig die Nase voll davon.
Zumindest würde sie nicht miterleben müssen, wie ihr Dorf durch die wiederholten Heimsuchungen weiter schrumpfte und sich schließlich vollkommen auflöste. Solange ihr Körper es zuließ, würde sie ihre Enkel und Urenkel natürlich unterstützen. Aber sie würde sich gewiss nicht wehren, wenn der Tod eines Tages beschloss, sie zu sich zu holen.
Johanna schloss die Augen und atmete tief durch. Der Duft der letzten Blumen und die frische Gletscherluft stiegen ihr in die Nase, und sie lächelte. Diese Momente. Die waren es, wofür es sich zu leben lohnte. Nicht Geld, Macht oder Reichtum. Nein. Einfach die Ruhe, die einem die Natur vermitteln konnte. Der Duft von Pflanzen, Gletscherwasser und … Menschen?
Johanna stutzte und öffnete die Augen. Sie sah sich um, konnte aber niemanden in der Nähe sehen. Hatte sie sich geirrt oder hatte sie soeben wirklich einen Menschen gerochen? Menschen hatten in diesem Teil des Landes nichts verloren. Es war gefährlich, wenn sie den Kindern zu nahe kamen, und an allen Wanderwegen waren Warnschilder aufgestellt, die Touristen am Weitergehen hindern sollten. Außerdem war das Dorf von hohen Bergen umgeben, die es unmöglich machten, von Norden, Osten oder Süden in das Tal zu gelangen. Der einzige sichere Weg führte über einen breiten Fluss, der an einer Stelle besonders flach war. Kein Mensch wusste von dieser Stelle und sie konnte höchstens durch Zufall entdeckt worden sein. Es gab auch eine alte Hängebrücke, die an anderer Stelle über den Fluss führte. Aber die war seit langer Zeit so morsch, dass niemand es wagen würde, sie zu benutzen. Menschen kamen nicht auf diese Seite des Tals. Das war seit Jahrzehnten nicht passiert. Zum Glück. Denn meistens endeten solche Besuche sehr unschön und gingen mit vielerlei Problemen einher.
Johanna blickte den Weg hinunter und sah, wie in diesem Moment ein junger Mann um die Ecke bog. Ein Mensch.
Sofort lief ihr das Wasser im Mund zusammen, ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können. Ihre Zunge tastete nach den einzigen Zähnen, die ihr noch geblieben waren. Ihren Giftzähnen.
Im Gegensatz zu allen anderen Zähnen waren diese ein fester Bestandteil des Kieferknochens. Sie waren bei Johanna im Alter von einem Jahr gewachsen und würden niemals ausfallen. Eine Tatsache, die Johanna eher als hinderlich empfand.
Weitere Kostenlose Bücher