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Die Entscheidung

Die Entscheidung

Titel: Die Entscheidung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Siebern
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Geburt der Ältesten überall gesprochen wurde. Doch die jungen Leute des Dorfes zeigten kaum noch Interesse daran, diese zu lernen. Sie hielten die Vampirsprache für eine tote Sprache, wie Latein, die man nur brauchte, um alte Schriften zu entziffern. Und da sie ohnehin keinen Zugang zu den Bibliotheken der Ältesten hatten, weigerten sich die meisten Kinder, sich damit zu befassen.
    „Sind Sie ganz alleine hier in die Wildnis gekommen?“, fragte der junge Rothaarige und riss Johanna damit aus ihren Gedanken. „Ist es nicht viel zu gefährlich für eine ältere Dame hier draußen?“
    Johanna verzog den Mund zu einem leichten Lächeln, achtete jedoch darauf, ihre spitzen Zähne nicht zu zeigen. Sie wollte den jungen Mann schließlich nicht erschrecken. Ein Opfer in den letzten Momenten seines Lebens zu quälen, war unnötig. Und ob dieser Mann überhaupt ein Opfer werden würde, war noch lange nicht entschieden.
    „Isch wonne iim Taal“, gab Johanna stockend zurück. „Isch machee Pause.“
    Der Mann sah zu dem Dorf hinunter und riss erstaunt die Augen auf.
    „In diesem Dorf?“, fragte er. „Ich wusste gar nicht, dass so weit oben überhaupt noch Menschen wohnen.“
    Tun sie auch nicht, dachte Johanna bei sich, behielt den Kommentar jedoch für sich.
    „Wiir sind kleine Doorf“, erwiderte sie stattdessen. „Isch biin Johanna. Uund du?“
    „George“, verkündete der Junge und streckte ihr die Hand entgegen.
    Johanna ergriff sie zögernd. Der junge Mann roch gut. Gesund und kräftig. Er wäre ein Festmahl für die Kinder. Aber wäre es klug, ihn aus seinem Leben zu reißen?
    „Uurlaub?“, fragte sie möglichst beiläufig und George nickte.
    „Ich bin hier, um zu wandern. Semesterferien.“
    Ein Student also.
    „Keeine Freundin?“
    „Nein. Ich bin im Moment solo. Von meinen Kumpels wollte auch keiner mit.“
    „Aaber sie wissen, dass du bist hiier, ja?“
    „Natürlich. Ich habe sie ja gefragt, ob sie mitwollen, aber sie hatten keine Lust. Wandern am Arsch der Welt? Ich meine … Entschuldigung. Sie leben ja hier.“
    Johanna lächelte nachsichtig. Island lag wirklich am Ende der Welt. Das konnte niemand bestreiten. Und das war vermutlich auch der Grund, warum ihre Gemeinschaft von den Ältesten unbehelligt blieb.
    „Kiinder?“, fragte Johanna und erntete dadurch einen ungläubigen Blick.
    „Definitiv nicht“, gab George zurück. „Und selber?“
    „Drrei Kinder, sechs Eenkel, fünfzeehn Ureenkel, zwei Urureenkel.“
    Beeindruckt pfiff George durch die Zähne.
    „Da waren Sie aber fleißig.“
    Johanna zuckte mit den Schultern.
    „Isch biin aalt“, entgegnete sie schlicht.
    George sah sie an, als würde er sich wünschen, niemals in ihr Alter zu kommen. Und das war der Moment, in dem Johanna ihre Entscheidung traf.
    „Haast du Lust, iin meein Dorf zu kommen?“, fragte sie lang gezogen. „Isch laade disch zum Eessen ein.“
    Es klang beiläufig, als wäre es absolut unwichtig, wie er sich entschied. Und eigentlich war es das sogar wirklich. Johanna war es so leid, über das Leben oder den Tod zu entscheiden. In den letzten zwanzig Jahren hatte sie so viel Tod und Leid gesehen, dass es für den Rest ihres Lebens genügte. Natürlich wäre es toll, wieder einmal frisches Blut zu bekommen, aber niemand im Dorf wusste von George. Solange sie ihren Urenkeln nichts von ihm erzählte, würde niemand auf die Idee kommen, dass sie wissentlich ein Abendessen entkommen lassen hatte. Sie hatte einfach keine Lust darauf, George zu irgendetwas zu zwingen. Tragen konnte sie ihn sowieso nicht.
    Das bedeutete, entweder kam er freiwillig mit oder sie würde ihn gehen lassen. Ihn nur für sich allein zu töten, wäre Verschwendung, und ihm etwas Blut abzuzapfen und ihn dann am Leben zu lassen, erschien ihr unangemessen für ihr Alter. Vor sechzig Jahren hätte sie das noch gemacht. Sie hätte ihn damals möglicherweise sogar verführt und ihm einen unvergesslichen Nachmittag beschert. Doch diese Zeiten waren lange vorbei.
    George zögerte und sah zu dem Dorf hinunter. Die kleinen Häuser hatten dunkle Dächer und standen dicht an dicht. Es gab keine größeren Straßen und er konnte kein einziges Auto erkennen. Johanna konnte regelrecht spüren, wie die Neugier in ihm wuchs. Doch dann schüttelte er den Kopf.
    „Nein“, sagte er. „Lieber nicht …“
    Johanna lächelte müde.
    „Keein Prooblem“, sagte sie. „Aaber du solltest nischt hiiieer bleiben. Ist gefährlisch, diese Berge, wenn duuu

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