Die Entscheidung
nischt kennst. Geh zurück, auf anderee Seite von Schlucht. Iischt besser.“
Johanna stand auf. Doch gerade als sie losgehen wollte, durchfuhr ein stechender Schmerz ihre Stirn und ließ sie zurücktaumeln. Sie kannte das Gefühl nur zu gut. Es war, als stäche man tausend heiße Nadeln gleichzeitig in ihr Gehirn und würde dabei Bilder auf ihre Netzhaut projizieren. Johanna keuchte. Sie sah einen Mann und eine junge Frau, die in Reykjavik aus einem Flugzeug stiegen. Das Mädchen hatte sie noch nie gesehen. Doch den Mann kannte sie dafür umso besser.
Siebzig Jahre waren seit ihrer letzten Begegnung vergangen, und er hatte sich kein bisschen verändert. Dieselbe Statur, derselbe Gang, dieselben harten Augen. Tränen stiegen Johanna in die Augen, während sie sein kantiges Gesicht betrachtete. Darrek war auf dem Weg hierher. Der Sohn der Ältesten. Der Rebell und Krieger. Ihr Bruder.
Die Bilder veränderten sich und wechselten in wilder Folge. Es war schon immer schwer gewesen, die Visionen zu interpretieren, aber in diesem Falle war Johanna sicher, wie sie sie zu deuten hatte. Darrek war nach Island gekommen und würde bald hier sein. Und vielleicht … ja, vielleicht würde er sogar rechtzeitig da sein, bevor der Vollmond sein nächstes Opfer einforderte. Das kam ganz auf die Entscheidungen an, die er traf.
Johanna schrie auf, als die Bilder abrissen. Der Schmerz verschwand so schnell, wie er gekommen war, aber die Gefühle hallten nach. Zwei Tropfen Blut rannen aus ihren Augen und sie wusste, dass das Weiße ihrer Augen rot unterlaufen war. So war es immer nach einer Vision. Johanna fühlte sich vollkommen desorientiert und wusste gar nicht, wie ihr geschah, als George beherzt nach ihrem Arm griff.
„Alles in Ordnung, Lady?“, fragte er. „Ihre Augen … Ich … Geht es Ihnen gut?“
Johanna schüttelte den Kopf, um ihn wieder klar zu bekommen, aber der junge Mann missverstand die Geste.
„Wir müssen Sie zu einem Arzt bringen“, verkündete er. „Sie hatten bestimmt einen Schlaganfall oder so etwas. Kommen Sie. Ich begleite Sie zu Ihrem Dorf.“
Johanna wollte zuerst abwehren, doch dann überlegte sie es sich anders. Warum sollte sie dieses Angebot ablehnen? Darrek würde kommen. Und das würde gewiss ein Grund zum Feiern sein. Und auf einer Feier sollte man immer etwas Gutes zu essen bereithalten. Das verlangten allein schon die guten Manieren. Und wenn das Festmahl sogar bereit war, sie freiwillig zu begleiten, sollte man so etwas nicht ausschlagen.
„Jaaa“, sagte sie daher. „Daaanke. Geehen wiir.“
Kapitel 3
Island
Island war kalt. Das war das Erste, was Laney feststellen musste, als sie in Reykjavik aus dem Flugzeug stiegen. Die Umgebung von Buffalo, wo Laney ihre Kindheit verbracht hatte, war zwar auch kalt gewesen, aber Laney hatte ein Jahr lang in Spanien gelebt und war danach in Afrika gewesen. Dementsprechend war sie nicht mehr an die Kälte gewöhnt und auch kleidungsmäßig kaum darauf eingestellt. Sie trug immer noch das T-Shirt und die kurze Hose, die sie sich in Afrika besorgt hatte, nachdem sie von der Insel geflohen waren. Die Kleidung, die sie während der Reise von Spanien aus angehabt hatte, war im Mülleimer gelandet. In Afrika war ihr der Gedanke unerträglich erschienen, mit langer Hose und Jacke herumzulaufen. Doch Darrek hatte sie auch viel zu lange im Unklaren darüber gelassen, wo es hingehen sollte. Als sie am Flughafen von Marokko endlich verstanden hatte, wo es hingehen sollte, war es bereits zu spät gewesen, um sich noch wettergemäß einzukleiden.
Darrek war besser ausgerüstet. Er trug eine lange Jeans und ein Pullover hing lässig über seiner Schulter. Auf seinen nackten Armen hatte sich eine Gänsehaut gebildet, aber er schien die Kälte gar nicht wahrzunehmen. So wie Laney ihn bisher kennengelernt hatte, wartete er darauf, dass sie etwas sagen würde. Vorher käme er bestimmt nicht auf die Idee, ihr eine Jacke zu besorgen. Laney biss sich auf die Unterlippe.
„Es ist kalt“, brachte sie schließlich hervor, während sie mit Darrek durch den Flughafen lief.
„Hm. Und?“
„Wie und?“ Laney blieb stehen. „Mir ist kalt, Darrek. Ich brauche andere Klamotten.“
„Na, das klingt doch schon ganz anders“, stellte Darrek lächelnd fest und blieb ebenfalls stehen. „Wenn du jetzt auch noch ein ‚bitte‘ zu deinem Satz hinzufügen könntest, wäre ich vielleicht geneigt, deiner Aufforderung nachzukommen.“
Laney verschränkte die Arme vor dem
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