Die Entzauberung Asiens: Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert (German Edition)
des letzten Jahrzehnts einzuarbeiten, hätte eine erhebliche Erweiterung des Umfangs notwendig gemacht. Wir wissen heute mehr über viele der im Buch behandelten Autoren des 18. Jahrhunderts (zwei Beispiele: Wiesehöfer/Conermann 2002; Haberland 2004). Vor allem ist die Suche nach Dokumenten, aus denen sich die asiatische Sicht auf Europa und Europäer erkennen läßt, intensiviert worden; hier mag die Zukunft noch manche Überraschung bereithalten (Osterhammel 2002). Der methodisch begründete Eurozentrismus der Entzauberung Asiens bleibt einstweilen unvermeidlich. Vielleicht wird aber in einigen Jahrzehnten eine umfassende Geschichte der gegenseitigen Wahrnehmung von Europäern und Asiaten im 18. Jahrhundert geschrieben werden.
Das Buch war als Beitrag zu einer ganzen Reihe von Themenfeldern und Debatten gedacht und ist von seinen Lesern auch so verstanden worden. Seine speziellen Interpretationen und allgemeinen Argumentationslinien bedürfen einstweilen keiner Revision. Wie aber haben sich, vom Standort des Jahres 2010 her gesehen, die Kontexte der Diskussion seit 1997 verschoben?
Der globale Horizont der europäischen Aufklärung
Es war keine sensationelle Neuigkeit, daß die europäische Aufklärung da und dort den Blick über Europa hinaus gerichtet hatte. Man wußte seit langem von Montesquieus Lektüre von Reiseberichten über Persien, von Voltaires Bewunderung und polemischer Lobpreisung Chinas, von Lessings Interesse am Islam. In den siebziger und achtziger Jahren entdeckten Ideen- und Literaturhistoriker die Anthropologie und Ethnologie des 18. Jahrhunderts (neuerdings: Zammito 2002). Wenig davon fand Eingang in die verbreiteten Gesamtdarstellungen der Epoche; für Fachleute wie für die Autoren von Lehrbüchern und für das allgemeine Publikum blieb die Aufklärung eine rein europäische Geistesbewegung, die ihre Zentren in Frankreich, Schottland und den deutschen Ländern hatte und der es vorrangig um die Kritik an den Zuständen im damaligen Europa ging. Dieses konventionelle Bild der Aufklärung, das allein durch Franco Venturi, ihren vielleicht größten Historiker, schon früh relativiert worden war, hat mittlerweile eine ernsthafte «globale» Konkurrenz bekommen. Als erster hat Venturis Schüler Edoardo Tortarolo in einer bahnbrechenden neuen Synthese (1999) die Obsession der Aufklärer mit Geographie, fremden Völkern und den Abstufungen zwischen «Wildheit» und «Zivilisation» in das Gesamtbild der Aufklärung einbezogen (später auch Pocock 2005; Outram 2006).
Heute wird deutlicher als früher, daß die Aufklärung polyzentrisch war. An ihren zahlreichen europäischen Peripherien spiegelte sie nicht nur den Glanz, der von Paris, Glasgow oder Göttingen ausstrahlte; überall in Europa gab es «Orte eigener Vernunft» (Kraus/Renner 2008; vgl. auch Butterwick u.a. 2008; Hardtwig 2010). Die britischen Kolonien in Nordamerika gewinnen in einem globalen Bild der Aufklärung zentrale Bedeutung. Benjamin Franklin, Thomas Jefferson und Alexander Hamilton gehören zu den maßgebenden philosophes des Zeitalters. In Lima, Kalkutta, Batavia oder Kapstadt wurden Impulse aus Europa kreativ aufgegriffen. Die Asiatick Society von Bengalen, geprägt durch Sir William Jones, war in den 1780er Jahren weltweit eine der wichtigsten Gruppierungen kulturverbindender Gelehrsamkeit. Die klügsten Köpfe unter den Jesuitenmissionaren am Hof des Kaisers von China blieben, was ihre Vorgänger schon zu Leibniz’ Zeiten gewesen waren: geschätzte Korrespondenzpartner der führenden Intellektuellen Europas (wichtige Quellenedition: Leibniz 2006).
Durch solche Kanäle, die in mancher Hinsicht die dichte «Vernetzung» der Gegenwart vorwegnehmen, gelangte Wissen über die politischen und gesellschaftlichen Zustände, über Sitten, Gebräuche und Religionen außereuropäischer Weltgegenden nach Europa. Dort wurde es geordnet, ausgewertet und archiviert, fremde Objekte wurden zur Schau gestellt (Collet 2007). Botanik und Zoologie profitierten von der Ausbeute von Expeditionen und kolonialen Sammlungen. Die Artenvielfalt der Natur wurde erst mit zunehmenden Kenntnissen über die Tropen so recht deutlich; einheimische Klassifikationssysteme flossen in manche jener Ordnungen ein, die europäische Wissenschaftler nun entwarfen. Intellektuelle und Gelehrte des 18. Jahrhunderts verarbeiteten einen stetigen Zustrom von Daten aus aller Welt. Wissenskulturen verknüpften sich über große Distanzen hinweg (Schneider 2008; mehrere
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