Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
in Gefahr zu begeben, werden wir es auf meine Weise machen. Und dazu müssen wir erst einmal aus dem Dorf hinaus!«
Mit diesen Worten drehte er sich um und schritt davon. Tora, Kunar und Charlie sahen sich verwirrt an.
»Warte!«, rief Charlie.
Der Thul drehte sich mit einem Mantelschlag um. Charlies Stimme wurde sicherer.
»Warte«, wiederholte sie und musterte den Thul von oben bis unten.
Er strahlte Kraft und Selbstsicherheit aus. Außerdem spürte Charlie noch etwas.
Einsamkeit.
Das Bild eines alten, erfahrenen Wolfes tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Kein Rudeltier, sondern ein Einzelgänger, und obwohl sie die Antwort bereits kannte, fragte sie:
»Woher sollen wir wissen, dass wir dir vertrauen können? Woher sollen wir wissen, dass du uns nicht direkt in Odens Hände führst?«
»Ganz genau! Du arbeitest womöglich mit ihnen zusammen!«, schlug Tora in die gleiche Kerbe.
»Ich arbeite immer allein«, knurrte der Thul und glich nun dem Wolf, den Charlie gespürt hatte. Sie wusste, dass er die Wahrheit sprach, trotzdem …
»Warum?«, fragte sie nur.
Der Thul sah sie seltsam an. Er schwieg eine Weile. Charlie zweifelte, ob er überhaupt verstanden hatte, was sie meinte. Ihr warum hatte sich nicht auf sein Angebot bezogen, ihnen zu helfen, denn sie ging davon aus, dass niemand, der bei klarem Verstand war, tatenlos zusehen würde, wie ein Dorf niederbrannte. Sie wollte gerade zu einer Erklärung ansetzen, als er endlich antwortete.
»Es ist mein Schicksal.«
Mit diesen Worten wandte er sich wieder zum Gehen.
Schicksal.
Charlie akzeptierte diese Erklärung zu ihrer eigenen Überraschung sofort. Das Schicksal, ein Runenorakel, hatte sie selbst hierhergeführt. Es brachte sie dazu, einen gefährlichen Weg zu gehen, einen Weg, der in eine unbestimmte Zukunft führte und der ganz reale Gefahren, ja sogar den Tod, mit sich bringen konnte.
Charlie sah dem Thul nach.
Das Schicksal, einsam zu wandern und einsam für die Wahrheit zu kämpfen. Hatte er das gemeint? Erzählte er deshalb Geschichten, die sich am Rande oder sogar jenseits des Erlaubten bewegten? Ging er bewusst Risiken ein, um seiner Bestimmung zu folgen?
Noch während sie überlegte, begann sie dem Thul zu folgen.
»Charlie, was tust du?« Kunars Stimme klang schroff und missbilligend zugleich. Sie hielt inne und sah ihre Freunde fast überrascht an.
»Was …?«, fragte Tora, doch sie formulierte ihre Frage nicht weiter aus. Verwundert stellte Charlie fest, dass Toras und Kunars Gedanken nicht einmal im Entferntesten ihren eigenen gefolgt waren.
Hatte sie wieder einmal etwas gefühlt, was den anderen verborgen blieb? Oder war sie von dem Thul in die Irre geleitet worden?
Sie zögerte.
Die Stimme des Thuls drang durch die abgelegene Gasse:
»Uns bleibt nicht viel Zeit …«
Charlie wandte sich rasch Kunar und Tora zu.
»Er hat recht. Die Zeit läuft uns davon. Die Sonne kann jeden Moment untergehen. Wir müssen etwas unternehmen, und mir fällt nichts Gescheites ein. Wenn dieser Mann eine Idee hat, werde ich ihm dabei helfen.«
»Und du vertraust ihm?«, fragte Tora skeptisch.
Charlie zögerte.
»Ich weiß es ehrlich gesagt nicht«, gestand sie dann. »Ich habe so ein Gefühl .«
»Ich bin dabei«, schloss sich Tora ihr an. »Ich mag ihn irgendwie.«
»Du magst ihn?« Kunars Worte schnitten wie ein Messer durch zartes Leogrifffleisch.
»Nenne es von mir aus auch so ein Gefühl !«, zischte Tora ihren Bruder an. Dann schweifte ihr Blick ab. »Er strahlt so etwas aus …« Sie zögerte, als suchte sie nach den richtigen Worten.
Kunar schüttelte besorgt den Kopf.
»Er strahlt so etwas aus «, wiederholte er sarkastisch.
»Einsamkeit«, flüsterte Charlie kaum hörbar.
»Ganz genau, das ist es!«, stieß Tora hervor.
Kunar sah die beiden sprachlos an.
Was war nur in diese Weiber gefahren. Einsamkeit? Tat ihnen dieser Thul etwa leid? Waren sie aus weiblicher Gefühlsduselei bereit, sich in Gefahr zu bringen?
»Also wirklich!«, begann er empört. Doch Charlie schüttelte den Kopf. Sie schien Kunars Gedanken erraten zu haben.
»Nicht so wie du denkst«, erklärte sie schnell. »Was ich damit meine, ist, dass er auf jeden Fall alleine arbeitet. Ich weiß nicht, ob wir ihm trauen können, aber ich bin mir so sicher, wie ich unter diesen Umständen nur sein kann, dass er nicht mit Odens Leuten zusammenarbeitet .«
Tora nickte langsam. Sie verstand jetzt Charlies Gedankengang, und auch Kunar warf dem Thul nun weniger
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