Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
wickelte eine zu einem Bündel zusammengerollte Decke auf.
Dort lagen sie: Zwei riesige Trommelschlägel, die dem Barden des Dorfes gehörten.
»Und du weißt wirklich, was du tun musst?«, fragte Kunar noch einmal zweifelnd. Der Thul nickte nur. Er hatte ihnen bereits erklärt, dass er einige der wichtigsten Galder kannte und sich durchaus zutraute, sie zu schlagen. Das Wichtigste war, dass der Barde des Dorfes die Botschaft verstand.
»Sobald die Warnung getrommelt ist, werden sie der Sache nachgehen«, erklärte er, während er sich bereitmachte und die enormen Schlägel mit gewaltigen Armbewegungen probehalber umher sausen ließ. » Feuer werden sie verstehen und so dumm sind sie nicht, dass dann nicht irgendjemand auf die Idee kommt, den Aussichtsturm zu besteigen!«
Charlie stimmte ihm zu.
Jedes Dorf besaß eine Spähplattform, von der aus man weit über das Land – auch über einen dichten Wald wie den Mörkveden – blicken konnte.
Es war ein guter Plan.
Der einzige Haken war, dass sie die Galdertrommeln erst schlagen konnten, wenn tatsächlich Gefahr bestand. Das Feuer musste bereits im Anzug sein, sonst würde der Späher vom Aussichtsturm aus nichts sehen und womöglich falschen Alarm bekannt geben. Die Menschen im Dorf würden jedenfalls nur wenig Zeit für die Flucht haben.
Für Ragnar und die drei Freunde war die Sache nicht ungefährlich. Sie mussten zusehen, dass sie die Schneise, die das Feuer schlagen würde, verließen, bevor es oder irgendjemand anderes – womöglich noch Gefährlicheres – sie überraschte.
Da Charlie in ihren Träumen nicht vorausgesehen hatte, zu welcher Uhrzeit die Katastrophe passierte, konnten sie jetzt nichts anderes tun als warten. Charlie kletterte wieder auf den Baum und übernahm die erste Wache.
Drei Stunden später saß Tora im Ausguck, während Charlie es sich an der alten Scheune so bequem wie möglich machte. Vor lauter Aufregung hatte sie bei ihrer Ankunft den Jordvätten nur vage im Unterbewusstsein wahrgenommen, doch nun spürte sie seine Kraft stark und beruhigend durch ihre müden Glieder strömen. Sie verstand, dass es von Vorteil war, die Galdertrommeln an einem sicheren Platz aufzubewahren - wer sie schlug, konnte nicht angegriffen werden.
Ob der Barde von Friggstorp das Geheimnis dieses Ortes kannte?
Der Thul hatte ihnen erzählt, dass nur ein Barde eine Galder-Scheune betreten durfte.
Sie befanden sich also auf verbotenem Gelände.
Der Thul rauchte eine Pfeife. Kunar kam mit einem Bündel aus Glers Satteltaschen aus der Scheune. Er reichte Charlie und Ragnar ein Stück Brot und etwas Käse.
Charlie hörte, wie sich Tora oben im Baum bewegte.
»Und ich?«, rief sie ungehalten durch die Stille der Nacht.
»Mach nicht solch einen Lärm!«, zischte ihr Bruder zurück. »Du verhungerst schon nicht!«
»Das schmeckt gut!«, sagte Ragnar anerkennend. »Ich habe schon lange kein so wohlschmeckendes Brot mehr gegessen.«
Er war weit jünger, als Charlie gedacht hatte.
Vielleicht Mitte dreißig?
Seine braunen, langen Haare trug er als Zopf im Nacken.
»Wisst ihr«, sagte er, als ob ihn etwas schon eine ganze Weile beschäftigte. »Es ist doch sehr bezeichnend, dass Oden gerade heute seine Macht demonstrieren will.
Disablot wurde ursprünglich gefeiert, um die Göttin des Wachstums zu ehren. Disa ist die Bezeichnung der weiblichen Gottesmacht, ohne die kein Leben möglich wäre. Obwohl Oden diesen Feiertag in ein Fest der Gottheiten des Wachstums umwidmete, war es ihm doch immer ein Dorn im Auge, dass viele die ursprüngliche Kraft ehrten …«
»Du meinst, dass er ein Exempel statuieren will?«, fragte Charlie, die mit Schaudern feststellte, dass sie Odens Vorgehensweise mittlerweile recht gut verstand.
Ragnar nickte.
»Aus irgendeinem Grund glaubt Oden, seine Macht demonstrieren zu müssen. Seine ständige Suche – erst nach diesem Jungen und jetzt nach irgendeinem Magier … Sein neues, vereintes Heer der Nidhöggs und nun offenbar ein Inferno an einem der wenigen Feiertage, die auch heute noch der weiblichen Fruchtbarkeit gewidmet sind …
Wusstet ihr übrigens, dass dieser ganze Monat ursprünglich ausschließlich der Frau gewidmet war? Die weibliche Fruchtbarkeit – ihre Fähigkeit, Leben hervorzubringen – wurde und wird mit dem Jahreswachstum der Erde gleichgesetzt. Ohne Mutter Erde gibt es keine Nahrung und keine Möglichkeit zu überleben. Das ist Oden natürlich zuwider. Er will uns glauben machen, dass es allein in
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