Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
Händen.
»Charlie, könntest du vielleicht machen, dass es aufhört zu regnen?«, fragte sie dann so, als wäre nichts Weltbewegendes geschehen. »Das ist ja hier so, als ob jemand eimerweise Wasser auf uns herabschüttet!«
Charlie konzentrierte sich kurz und schon floss das Wasser über ihnen ab, wie auf einer großen, unsichtbaren Kuppel.
»Danke«, sagte Tora und begann ihre Haare auszuwringen.
»Wird Hravn wieder er selbst, wenn wir zurück nach Godheim gehen?«, fragte Sora mit nervösem Unterton. Der Hengst hatte inzwischen zu grasen begonnen.
Doch Charlie antwortet nicht.
»Wo ist Gler?«, fragte sie plötzlich. Suchend blickte sie sich nach allen Seiten um, so als ob sie eine bittere Wahrheit dadurch ungeschehen machen konnte.
Ragnar räusperte sich.
» Keiner von uns hat ihn berührt. Er war viel zu weit weg. Das letzte, was ich von ihm sah, war, dass er in panischem Galopp über die Hügel davon fegte.«
»Die Nidhöggs?«, flüsterte Tora.
»Ich habe nicht gesehen, dass ihm einer folgte. Sie stürzten sich alle auf uns. Sie ziehen Menschenblut vor. Wir schmecken wohl besser«, sagte Ragnar.
»Dann könnte er es geschafft haben?«, fragte Charlie leise, obwohl sie sehr daran zweifelte.
Ragnar sah Charlie mit einem verstehenden Blick an. Er schüttelte langsam den Kopf.
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie das möglich wäre«, sagte er niedergeschlagen.
»Wir müssen zurück!«, rief Charlie. »Wir müssen sofort zurück!«
Niemand regte sich. Sie sahen Charlie alle mit einer Mischung aus Sorge und Angst an, froh, mit dem Leben davongekommen zu sein.
»Lagaz som Nifel!«, rief Charlie und ließ mit Hilfe einiger schnellen Handbewegungen Nebel aufsteigen. Sora wich zurück und holte hastig ihr Amulett hervor.
»Aber wir müssen ihn retten!«, schrie Charlie. Ragnar räusperte sich verlegen.
»Ja, das müssten wir«, sagte er endlich. »Aber wir hätten nicht die geringste Chance. Es waren zu viele und es kamen noch mehr. Ich habe es gesehen.«
Er zögerte.
»Wir würden alle sterben …«
Charlie wusste, dass Ragnar recht hatte, aber sie wollte es nicht wahrhaben.
Gler! Ihr treuer, störrischer Begleiter. Er war kein mutiges Einhorn. Er war vor der Gefahr geflohen und dadurch …
Charlie konnte diesen Satz einfach nicht zu Ende denken.
Nein! Er muss es irgendwie geschafft haben!
Aber Zweifel nagten im Hintergrund.
Wie soll das möglich gewesen sein?
Die begehrte Beute war vor den Augen der Nidhöggs einfach verschwunden – sie hatte sich im Nebel aufgelöst.
Sie würden doch sicher die Jagd auf das einzig verbliebene Wesen aufnehmen …? Oder waren sie so verwirrt, dass sie Gler vergaßen? Vielleicht hatten sie in ihrem blutrünstigen Eifer nicht bemerkt, dass er sich davongemacht hatte? Gler …
Charlie wurde aus ihren schmerzlichen Gedanken gerissen.
»Das hier ist also dein Euripides«, stellte Ragnar sachlich fest und sah Sora lächelnd an. »Ich würde sagen, es hat uns allen das Leben gerettet!«
»Ein sehr guter Grund, es zu mögen«, stimmte Tora zu, die sich ihren blutenden Oberarm hielt. »Aber was sind das für seltsame Bäume?«, murmelte sie und betrachtete die enormen, weiß-grauen Gebilde, die zwischen den Hügelgräbern empor schossen.
»Das sind keine Bäume, sondern Pilze«, begann Sora zu erklären, wurde dann aber von Kunars erboster Stimme unterbrochen.
»Sie blutet! «, rief er aufgebracht. »Könnten wir uns vielleicht erst einmal darum kümmern ? «
Charlie fischte aus ihrer Manteltasche einen Beutel mit gemahlenem Nidhöggseckzahn. Nur wenig später war die Blutung gestillt.
Langsam kehrte wieder Farbe in Toras Gesicht zurück.
Sora hatte sich inzwischen umgesehen, während Hravn in aller Ruhe am Fuße des Hügels graste.
Sie war zu Hause … auch wenn ihr Ursprung auf Godheim lag, so war sie doch hier aufgewachsen – hier auf diesem Planeten mit seinen seltsamen Pflanzen: Pilze und Gräser, wo das Auge auch hinsah. Ein seltsames Gefühl überkam sie.
Euripides … Rheas Grab …
Charlies magische Kuppel erinnerte Sora an Minervas Dachterrasse und an Archimedes. Als sie vor mehr als acht Monaten mit ihm hier gewesen war, hatte es auch geregnet.
Soras Blick schweifte den Hügel hinauf. Dort stand er, zwölf Fuß hoch: Rheas Grabstein – ein massiver, uralter Runenstein, der Rheas Botschaft überbrachte.
Sie streifte ihr nasses Haar zurück und schritt langsam, wie in Trance, den aufgeweichten Hügel hinauf. Sie nahm nicht wahr, wie
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