Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
Bilskirne?
Charlie hatte keine Ahnung. Das einzige Wappen, das sie wiedererkannte, war das Oden-Siegel über der Burg, das von zwei Raben umgeben war, die ihre Schwingen zum Flug ausbreiteten. Oden selbst war allerdings nirgends zu entdecken.
Zum Glück, dachte Charlie, denn sie war wirklich nicht scharf darauf, auch nur einem Mantelzipfel von ihm zu begegnen.
Charlie begab sich zur Mitte der Startlinie, wo ein langer Tisch mit einer samtroten Decke aufgebaut war. Hier sollte sie sich laut Ragnar ihre Prägung für das Rennen abholen.
Charlie stockte der Atem, als sie einen der Rabenzwillinge erkannte, der im Hintergrund das Geschehen beobachtete.
Hugin oder Munin?
Charlie zog sich ihre Kapuze tief ins Gesicht und trat an den Tisch.
»Karl Torsson«, sagte sie mit tiefer Stimme.
Der Mann hinter dem Tisch streckte ihr seine Hand entgegen. Charlie konnte deutlich die verschiedenen Tätowierungen erkennen, vier an der Zahl.
Der Mann war also ein Raidho.
Charlie ergriff die Hand und spürte, wie eine kraftvolle Energie zu ihr strömte.
»Das war‘s«, sagte der Raidho. »Viel Glück, mein Junge. Der nächste bitte!«
In sicherer Entfernung sah sich Charlie weiter um.
Die Wiese hinter der Startlinie glich einem Marktplatz. Die Buden und Wagen bildeten enge Gassen, die von Menschen nur so wimmelten. Gelächter und erregte Stimmen waren zu hören. Die allgemeine Anspannung, so kurz vor dem großen Ereignis, war überall deutlich zu spüren.
Plötzlich tauchte Tora neben Charlie auf.
»Was machst du denn hier?«, fragte Charlie überrascht. »Wo ist Kunar?«
Tora ließ Kunar alleine? Fühlte sie denn nicht, dass er etwas verbarg?
»Ragnar ist bei ihm«, sagte Tora und starrte stirnrunzelnd zu einer Gruppe von Leuten hinüber, die gerade an einem der vielen Stände das Sortiment betrachteten. »Ragnar hat sich eine Einhornstute gekauft«, sagte sie und grinste breit. »Gler ist ganz hin und weg von ihr und weicht ihr nicht von der Seite!«
Tora verdrehte die Augen. Dann zog es ihren Blick wieder zu den Menschen an dem Stand. Eine Frau hielt ihre Kinder an der Hand, damit sie nicht verloren gingen. Ein Junge schlenderte lustlos hinterher und ließ traurig den Kopf hängen.
»Ein Einhorn?«, fragte Charlie. »Wozu kauft er sich ein Einhorn?«
»Er meinte, es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, jetzt wo wir so viel umherreisen«.
Was war denn das für eine Logik? Ragnar war ein Thul. Er war schon immer umhergereist!
Bevor sie den Gedanken weiter spinnen konnte, zog Tora sie am Ärmel.
»Sag mal, ist das da nicht der Junge, den wir gerettet haben? Wie hieß er gleich?«.
Charlie folgte Toras Blick und erkannte den Jungen sofort.
»Kitil!«, stieß sie hervor. »Das ist er!«
»Sag ich doch«, meinte Tora zufrieden. »Der Junge, den die Nidhöggs fast getötet hätten. Er hat also überlebt. Wegen ihm wären wir beinahe aufgeflogen! Das ganze Dorf war ja hinter uns her!«
»Los, weg hier«, zischte Charlie. »Wer weiß, ob er uns wiedererkennt!«
Tora nickte.
»Ich soll dir sowieso ausrichten, dass alle an der linken Tribüne auf uns warten. Ich habe Sora und Hravn bereits hingeschickt«, sagte sie.
Biarn stand in einem bestickten Mantel auf der rechten Tribüne und spähte unruhig über die Menschenmenge, die unter ihm hin und her wogte. Während er seiner Mutter Vigdis auf ihren thronähnlichen Sitz half, suchte sein Blick zum wiederholten Male die große Wiese ab.
Ob sie es tatsächlich wahrmachte? Stur und wagemutig genug war sie ja …
Ein besorgter Ausdruck huschte über sein Gesicht.
Charlie … Dieses eigensinnige Mädchen aus einer anderen Welt.
Er war sich sicher, dass sie noch am Leben war. Es wäre ihm auf die eine oder andere Weise zu Ohren gekommen, wenn ihr etwas zugestoßen wäre. Und falls es stimmte, was einige Quellen behaupteten, so konnte sie sogar Gesellschaft bekommen haben. Kapitän Brage hatte Gerüchte über einen Thul vernommen.
Über den Thul.
Brage, der nun tot war …
Und genau dieser Thul konnte laut Biarns Erkenntnissen nur ein Ziel haben – Trymhem in Jättehem.
Hatte das Schicksal sie zusammengeführt? Das Mädchen aus der alten Zeit und den Bewahrer von Überlieferungen? Biarn hatte von dem Thul gehört, der mehr zu wissen schien als ein gewöhnlicher Geschichtenerzähler.
Welche Wahrheit hielt er für Charlie bereit?
»Danke, mein Sohn«, sagte Vigdis und lächelte Biarn liebevoll zu. Biarns Gesichtszüge glätteten sich und er schenkte seiner
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