Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
von ihr verlangte. Um weiterzukommen, musste sie diese junge Frau finden. Und zwar bevor Oden es tat, denn auch er suchte nach ihr. Er wollte den dritten und letzten Teil des Amuletts in seinen Besitz bringen.
Ursprünglich wollte Charlie aufbrechen, sobald sie wieder laufen konnte. Doch Biarn riet ihr davon ab. Er meinte, Charlie müsse erst ganz gesund werden und genügend Kräfte sammeln. Sie würde sie brauchen. Abgesehen davon stand der Winter kurz bevor, der durchaus sehr hart werden konnte. Letzteres hatte sich bisher nicht bewahrheitet. Es war außergewöhnlich mild. Trotzdem hatte sich Charlie zum Bleiben überreden lassen. Kräfte zu sammeln schien angesichts der Gefahren, die auf sie zukommen konnten, nicht verkehrt. Vor allem aber würde sie auf diese Weise Alvablotet im Schutze der Schwarz-elfen erleben. Sie hoffte, gemeinsam mit ihnen die Nornen besuchen zu können. Diese Rosen der Zeitalter blühten lediglich in Doppelvollmondnächten – also zweimal im Jahr – und dann auch nur für wenige Stunden. Nur Frauen konnten die blühenden Nornen berühren, die je nach Farbe der Blüte die Vergangenheit, die Gegenwart oder eine mögliche Zukunft zeigten. Die Nornen Urd, Verdandi und Skuld gewährten den Suchenden Einblicke in Dinge, die sie beschäftigten. Leider konnte man nicht einfach Fragen stellen. Man musste verstehen, was sie einem sagten – und das war nicht immer ganz leicht, wie Charlie von ihrer letzten Nornenvision deutlich in Erinnerung hatte. Trotzdem wollte sie die Möglichkeit, mehr über sich und die Geschehnisse auf Godheim und vielleicht auch der Erde zu erfahren, nicht ungenutzt verstreichen lassen.
Abgesehen vom Besuch bei den Nornen an Alvablotet gab es noch etwas, was Charlie unbedingt tun wollte, bevor sie sich auf die Suche nach der jungen Frau aus ihren Visionen machte. Sie wollte gemeinsam mit Biarn die Blumenwiese aufsuchen. Es handelte sich dabei um jenen Platz, an dem sie das erste Mal aus dem Nebel getreten war. Und damit war die Wiese auch der Ort, von dem aus sie vor fast 15.000 Jahren zur Erde geschickt worden war. Sie wusste nicht genau, was sie sich von dem Besuch erhoffte, aber sie wollte unbedingt dorthin reisen. Da auch Biarn Interesse zeigte, wollte er sie dorthin begleiten.
Der Tag, an dem sie die Schwarzelfen verlassen würde, rückte also näher.
Würde sie allein gehen müssen?
Als Charlie Tora ihr Geheimnis anvertraute und ihr auch vom Runenorakel, ihren grünen Träumen und der jungen Frau erzählte, bot Tora sofort ihre Hilfe an. Sie sprach damals von wir. Wir werden die junge Frau suchen, wir werden Antworten auf alle Fragen finden. Doch damals ging Tora auch noch fest von einer Versöhnung zwischen Kunar und Charlie aus. Sie hatte geglaubt, dass ihn das Abenteuer reizen würde und er wegen der unglaublichen Möglichkeit, Odens Macht zu brechen, über die se Kleinigkeit hinwegsehen würde.
Die Kleinigkeit, dass Charlie ein Mädchen war …
Wie würde sich Tora nun entscheiden?
Charlie wagte nicht zu hoffen, dass Kunar ihnen freudestrahlend folgen würde. Bei dem Gedanken, ohne ihre Freunde losziehen zu müssen, wurde Charlie ganz schwer ums Herz. Entschieden schob sie diese beunruhigenden Gedanken beiseite. Erst einmal würde sie die Nornen besuchen.
Wer wusste denn schon, welche Geheimnisse sie offenbaren würden?
Womöglich würde Charlie sogar ihre Pläne ändern müssen. Und falls nicht, war danach immer noch genügend Zeit, um über Tora und Kunar nachzudenken.
Der nächste Tag verging schleichend langsam, so wie das immer ist, wenn man etwas herbeisehnt. Als die Nacht endlich hereinbrach, verkündeten Bil und eine weitere, besonders dicke Schwarzelfe namens Duva, dass die Nacht für die Besucherinnen der Nornen lang werden würde. Das Zeitfenster, in dem die Nornen dieses Mal blühen würden, läge erst in den frühen Morgenstunden. Aufgrund des späten Zeitpunktes könne es auch sehr kurz ausfallen, denn Nornen blühten nur im Mondlicht. Anstatt also sofort zum nächstgelegenen See aufzubrechen, wurde erst einmal ausgiebig gefeiert. Überall brannten münzengroße Feuerchen und schrumpelige Schwarzelfen aller Größen und Formen tanzten, sangen oder räkelten sich wohlig im fahlen Licht der beiden Monde Godheims.
Biarn war noch nicht zurückgekehrt.
Er blieb dieses Mal ungewöhnlich lange fort, und Charlie begann sich zu fragen, was ihn aufgehalten haben mochte.
Ihr kam sogar einmal der Gedanke, dass Biarn womöglich nur deshalb
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