Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)
einmal um die eigene Achse. Charlie schätzte, dass die Mäuse ungefähr doppelt so groß waren wie jene, die sie aus Schweden kannte. Für einen Moment herrschte großes Gewusel. Gleich darauf waren alle Mäuse mit ihren Reiterinnen in den Tiefen des Wichtelwaldes verschwunden. Zum Glück kannten Charlie und Tora den Weg zum See, sodass sie den Schwarzelfen so schnell es im Halbdunkel des Waldes möglich war, folgen konnten.
Kurz darauf lag der kleine See still und von Monden beschienen vor ihnen. Große Balderstüpfelteppiche breiteten sich über die Wasser-oberfläche aus.
»Da sind sie«, keuchte Tora und zeigte auf die kleine Böschung, die zum See hinunterführte. Die schrumpeligen Schwarzelfen standen nun neben den Mäusen am Rande der Böschung. Am Himmel funkelten zahllose Sterne um die Wette und zwei volle Monde warfen ihr Licht über das Land.
Charlie konnte die wenigen Nornen im See gut erkennen. In Ufernähe schwammen sie als grüne Bälle auf dem ruhenden Wasser, nicht ein Windstoß kräuselte die blanke Oberfläche.
»Ich glaube, es ist gleich soweit«, flüsterte Tora und blickte gebannt auf den See hinaus.
Kurz darauf begannen die grünen Seerosenbälle zu summen! Und dann blühten sie – wie auf ein geheimes Zeichen hin – alle gleichzeitig auf. Jeweils fünf große Blütenblätter mit einem riesigen Diamanten in der Mitte, der vibrierte und immer lauter summte. Ein betörender, süßlicher Duft stieg Charlie in die Nase und lockte sie mit unwiderstehlicher Kraft ans Ufer.
Die Elfenweiber hatten ihre Mäuse an der Böschung zurückgelassen und Charlie konnte sehen, wie die ersten von ihnen in kleinen Booten, die Kastanienschalen ähnlich sahen, auf den See hinaus ruderten. Es waren die gleichen Schalen, die Tora zum Verdecken von Charlies blauem Auge verwendet hatte, ehe sie auf der Erde für Charlie grüne Kontaktlinsen stahl. Da musste Charlie unwillkürlich auch an Hanna denken.
Wie es ihr wohl ging?
Die dicke Duva kletterte gerade in eines der Boote. Die Schale wackelte bedenklich und sank tief ins Wasser. Vorsichtig begann Duva auf eine rosafarbene Norne zuzupaddeln. Die Farbe Rosa war Skuld , die Rose der Zukunft, erinnerte sich Charlie.
Was versprach sich Duva von einer Zukunftsvision?
Soweit Charlie verstand, konnte niemand die Zukunft mit Sicherheit voraussagen. Weder die Nornen, der Trollspiegel, noch die Völven waren dazu fähig. Sie alle konnten lediglich mit einer möglichen Zukunft dienen, wobei der Trollspiegel zumindest Wissen und Vermögen des Suchenden mit einbezog.
Die Zukunft war formbar, das hatte Charlie gelernt. So verlockend die Vorstellung war, die Zukunft sehen zu können, wusste Charlie nicht, was es bringen sollte, eines von vielen möglichen Szenarien in Erfahrung zu bringen.
Ihr Blick schweifte über das Seeufer. Unweit einer weiteren rosa Norne blühten zwei lachsfarbene und eine lila Norne.
Tora war bereits in den See hinein gewatet und steuerte wie in Trance auf eine lachsfarbene Blüte zu – Verdandi , die Norne der Gegenwart. Sie hatte sich nicht einmal darum bemüht, ihren Rock hochzuziehen. Nass und schwer wurde er vom Wasser erfasst und umschlang Toras Beine, sodass sie strauchelte und wild fuchtelnd um ihr Gleichgewicht kämpfte. Hastig zog sie den Rock ein Stück höher und streckte ihre Hand nach der Norne aus.
Charlie krempelte ihre Hosenbeine hoch und folgte Tora in den See. Das Wasser war kalt. Charlie bekam eine Gänsehaut. Langsam watete sie weiter. Tora stand bewegungslos da und starrte ins Leere. Charlie wusste, dass sie in sich hineinsah. Sie hatte Visionen von etwas, das gerade geschah.
Charlie zog den süßen, schweren Duft der Blüten in sich hinein und watete auf die zweite lachsfarbene Norne zu. Der Diamant in der Mitte summte und vibrierte. Das Licht der Monde fing sich hell in dem großen Stein und brachte ihn zum Leuchten.
Die Norne lockte – sie duftete kräftig süß und vibrierte betörend.
Charlie spürte, wie ihre Sinne angesprochen wurden. Sie gab dem Werben der Blüte nach. Sie streckte ihre Hand aus und berührte den vibrierenden Diamanten. Im nächsten Moment tauchte sie in eine Vision ein.
Es war still. Ein gleißendes, lachsfarbenes Licht flimmerte vor ihren Augen, nur langsam konnte Charlie ein immer deutlicher werdendes Bild erkennen. Nebel stieg auf und umrahmte die Szene.
Charlie schien durch die Luft zu fliegen. Unter ihr sauste das Meer vorbei, eine felsige Insel kam näher und näher. Der größte
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