Die Erben der alten Zeit - Der Thul (German Edition)

können.«
    Charlie hatte nicht das Gefühl, etwas Besonderes getan zu haben.
    »Wir wissen ja noch nicht, ob meine Idee stimmt«, gab sie zu bedenken. »Vielleicht geht es auch gar nicht. Vielleicht kann ein Mensch nur aus den vier Elementen Kraft ziehen. Immerhin war das schon immer so. Vielleicht ist meine Idee nur ein verrückter Gedanke, weil ich nicht weiß, wie es sein muss.«
    Biarn lächelte.
    »Genau deshalb, weil du nicht wusstest, wie es sein sollte, hast du deine intuitiven Kräfte weit über das normale Maß entwickelt, Charlie. Du kanntest die Grenzen des Möglichen nicht, deshalb war es dir möglich, diese Grenzen zu überschreiten. Wir sind offensichtlich sehr festgefahren, was unsere Vorstellungen über Magie betrifft.«
    Biarn und Charlie diskutierten lange und ausführlich über Charlies Idee. Der Wald hüstelte und murmelte an seinen lichten Stellen. Alte Bäume gaben selten Laute von sich.
    Charlie war im Frühling in Vanaheim angekommen. Im Frühjahr trugen die großen Wichtelfichten jede Menge Wichtelzapfen, die ständig irgendwelche Geräusche von sich gaben. Die neue Generation Wichtelzapfen war offensichtlich noch zu jung. Lediglich Ansätze von Knospen waren zu sehen, die den Winter über in Ruhe verharren würden, um dann irgendwann zu großen rötlichbraunen Zapfen heranzuwachsen. Ein Bach plätscherte fröhlich vor sich hin und eine Schar Leogriffe flog über ihnen vorbei. Der kleine Bach mit seinem kristallklaren Wasser folgte dem Wildpfad eine ganze Weile. Dann verschwand er zwischen den hohen Bäumen, doch sein Plätschern war weiterhin zu hören.
     

7. Die Macht der Fylgjen
     
     
    H ier ist es!«, rief Charlie unvermittelt. Ein großer Busch versperrte ihr den Weg. »Dahinter liegt die Blumenwiese!«
    Die Wiese war kreisrund, genauso wie Charlie sie in Erinnerung hatte. Blumen blühten um diese Jahreszeit natürlich nicht. Erstaunlicherweise schien es fast so, als hätte jemand Rasen gemäht, sah man von den Steinen ab, die aus dem vertrockneten Gras emporragten und größtenteils von Moos überwachsen waren.
    »Sieht aus, als hätte das Wild hier ganze Arbeit geleistet. Offenbar gibt es nicht so viele saftige Wiesen in dieser Umgebung«, sagte Biarn und sah sich um.
    »Kann gut sein«, sagte Charlie. »Das erste, was ich hier zu sehen bekam, war ein schneeweißer Elch!«
    » Was hast du gesehen?« Biarn sah Charlie ungläubig an.
    »Einen weißen Elch«, wiederholte Charlie und zeigte über die Wiese. »Er hat hier gegrast und ist dann dort drüben im Unterholz verschwunden.«
    »Bist du sicher?«, fragte Biarn skeptisch.
    »Ja, natürlich«, antwortete sie.
    Was war denn nun schon wieder los? Weiße Elche gab es sogar auf der Erde. Zugegeben, sie waren selten. So wie das mit Albinos nun einmal war.
    »Der weiße Elch …«, murmelte Biarn. »Falls es noch Zweifel gegeben hat, wissen wir es nun ganz genau«, klärte er Charlie auf. »Das hier ist Idavall und du hast Eiktyrne gesehen! Den weißen Elch! Nach der Legende ist er der Wächter dieses heiligen Ortes!«
    Charlie konnte es kaum fassen. Wieder einmal entsprach eine Legende der Wahrheit. Biarn erzählte, dass der weiße Elch Eiktyrne ein Mythos der alten Zeit war. Soweit ihm bekannt war, hatte seit Urzeiten keiner mehr den Wächter zu Gesicht bekommen. Charlie war somit der erste Mensch der neuen Zeit, der seine Existenz bezeugen konnte.
    »Wie viele Legenden habt ihr denn noch!«, rief Charlie und schüttelte entgeistert den Kopf. Dabei fielen ihr die schwarzen Locken ins Gesicht.
    »Die Legende besagt noch mehr«, fuhr Biarn unbeeindruckt fort und drehte sich langsam um die eigene Achse.
    »Noch mehr?«, fragte sie skeptisch. »Okay, schieß los«, forderte sie ihn heraus. »Was haben wir hier entdeckt?«
    »Das kann ich noch nicht sagen«, sagte Biarn langsam. »Aber laut der Sage befinden wir uns hier auf einer Ebene, die sich Vigrid nannte. Der heilige Ort Idavall befand sich genau im Mittelpunkt dieser Ebene. Wie ich schon sagte, soll Eiktyrne der Wächter von Idavall gewesen sein – dort, wo sich auch Asgârd befinden soll.«
    »Was?«, fragte Charlie. »Asgârd? Aber ich dachte, das liegt auf der Felseninsel im Meer!«
    Biarn schüttelte den Kopf.
    »Nein, nicht Odens Asgârd. Ich spreche vom echten Asgârd, der weißen Burg!«
    »Der weißen Burg!«, wiederholte Charlie skeptisch.
    »Ganz genau, der weißen Burg.« Biarn lächelte. »Ja, ich weiß«, sagte er. »Das klingt wirklich wie eine Sage. Aber genauso