Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Diensten war.«
Clarissa verstand den Unterton. Er hatte ihr einen Palast geschenkt und sie doch in ein Gefängnis gesperrt.
»Keine Besuche mehr auf dem Markusplatz und seinen Cafés?«, vermutete Clarissa. Doriana nickte.
»Und dennoch war ich nicht unglücklich«, beeilte sie sich zu versichern. »Er kam uns besuchen, mehrmals in der Woche, und verbrachte dann den Tag und den Abend mit uns, bis er meist vor Mitternacht von den anderen Schemen wieder geholt wurde.«
»Und dann? Warum leben Sie nicht noch immer hinter den Mauern in Ihrem prächtigen Palast?«
»Sie meinen, warum ich diese Mauern gegen andere eingetauscht habe?« Sie hob die Schultern. »Es war kurz vor dem zweiten Geburtstag unserer Tochter. Ich weiß noch, dass ich ihn bat, mich nach San Marco fahren zu lassen, um ihr ein Geschenk zu kaufen. Er erlaubte es nicht, doch ich wollte unbedingt, also ließ ich das Kind in der Obhut unserer Gesellschafterin und nahm eine Gondel zum Markusplatz hinüber. Ich fand ein schönes Geschenk. Ich sehe es noch vor mir. Eine Puppe mit einem wundervoll golddurchwirkten Kleid, die eine Samtmaske trug und einen roten Domino. Es dämmerte bereits, als ich mich auf den Heimweg machte. Ich stieg in eine Gondel. Ich weiß noch, dass es mir ein wenig seltsam vorkam, wie der Gondoliere es vermied, sich mir zuzuwenden. Er hätte herbeieilen und mir seine Hand reichen sollen, doch er zog nur seinen Hut tiefer ins Gesicht und wandte sich ab.
Ich nahm Platz und sah durch die halb geöffneten Vorhänge der Felze, wie wir an der Punta della Dogma vorbeifuhren. Die Kuppel von Santa Maria della Salute schimmerte weiß gegen den langsam dunkel werdenden Himmel. Wir überquerten den Canale della Giudecca und fuhren dann durch den Canale di San Giorgio. Ich wunderte mich ein wenig, als wir den Campanile des Klosters passierten, der dem auf dem Markusplatz so ähnlich sieht. Es ist ein Umweg, dachte ich, doch meine Gedanken blieben bei dem Geschenk und meiner Vorfreude auf die glänzenden Augen meiner lieben Tochter, wenn sie das Paket öffnen würde.«
»Und dann? Was geschah weiter?« Clarissa war längst klar, dass der Gondoliere Doriana an diesem Abend nicht wieder zu ihrem Haus gebracht hatte.
»Ich schrak erst auf, als der Gondoliere sich vom Ufer der Insel schon weit entfernt hatte und direkt auf die dunkle Lagune hinaussteuerte. Ich protestierte und machte ihn auf seinen Fehler aufmerksam, doch er schenkte mir nicht einmal einen Blick. Da näherte sich eine zweite Gondel, die von zwei Männern gerudert wurde. Sie trugen schwarze Umhänge, Hüte und Masken, die mir so vertraut waren. Der Gondoliere hob die Hand zum Gruß. Für einen Moment fühlte ich mich erleichtert. Ich dachte, mein Geliebter sei gekommen, um mich zu begleiten, doch wohin fuhren wir und warum?« Sie holte tief Luft.
»San Clemente war unser Ziel. Mein letztes Ziel, das ich nie wieder verlassen sollte.«
»Aber es war nicht Ihr Geliebter, der Sie hierher brachte, nicht wahr?«
Doriana schüttelte den Kopf. »Nein, er war es nicht. Die beiden Schemen führten mich herein und übergaben mich einem der Ärzte. Ich glaubte, eine der Stimmen zu kennen.« Sie hielt inne und ließ den Blick in die Ferne schweifen. »Ich war mir fast sicher, doch heute denke ich, ich habe mich geirrt. Mein Geliebter war es jedenfalls nicht.«
»Könnte es der Conte gewesen sein?«, vermutete Clarissa.
Doriana verneinte. »Zumindest nicht er selbst. Wenn, dann hat er seine Männer geschickt. Ich habe oft vermutet, er könnte dahinterstecken. Aber warum? Weil ich mich nicht mehr mit ihm getroffen und ihm berichtet habe? Aus Rache? Ja, vielleicht. Vielleicht fühlte es sich für ihn wie Untreue an. Männer sind in der Beziehung sehr empfindlich. Doch wie konnte er mich ausgerechnet an diesem Tag aufspüren? Wenn er wusste, wo ich zu finden war, warum hat er mich dann nicht aus dem Haus holen lassen? Wir Frauen waren die meiste Zeit alleine. Oder wurde das Haus doch bewacht? Ich weiß es nicht. So viele Fragen ohne Antworten.« Wieder schwieg sie. Ihre Gedanken waren weit fort und schweiften durch die Vergangenheit. Clarissa fürchtete, Doriana würde sie wieder fortschicken, ehe sie alles erfahren hatte.
»Wie ging es weiter?«, fragte sie daher rasch.
Dorianas Blick kehrte zurück. Sie hob mit einem Ausdruck der Resignation die Schultern. »Die Geschichte ist hier zu Ende. Der Arzt untersuchte mich und stellte mir Fragen, dann überließ er mich zwei Schwestern, die mich
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