Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Herz des Heimkehrers zu entzücken, wie es mein Onkel Leone so schön formuliert. Sie sind dazu da, den Oscuri einen sicheren Hafen zu geben, wenn sie erschöpft von ihren nächtlichen Raubzügen zurückkehren. Dafür werden sie mit allerlei Luxus belohnt und mit Schmuck geradezu überschüttet.«
»Du klingst sehr bitter.«
»Was nützt dem Vogel der goldene Käfig?«, brauste sie auf. »Oh ja, ich habe zwei Schwestern, die seit dem Tod unserer Mutter in Leones Haus leben und es niemals verlassen, bis sie vielleicht irgendwann verheiratet werden. Die Frauen und Mädchen leben Tag für Tag in Haus und Hof und begnügen sich mit dem Stück Himmel über dem Altan. Vielleicht dürfen sie sich einmal im Jahr für einen Ball mit einem prächtigen Gewand schmücken und sich mit Juwelen behängen, um unter dem Schutz ihres Gatten den Neid und die Bewunderung anderer Männer zu erwecken. Ansonsten leben sie nur, um den Oscuri die Illusion eines Paradieses, verborgen in Venedig, zu schaffen.«
Tammo dachte eine Weile darüber nach. »Warum bist du nicht in einem der Häuser verborgen? Warum fliegst du mit den Männern über die Dächer von Venedig, um den Reichen Geld und Schmuck zu rauben?«
»Weil es mir Spaß macht und ich gut bin«, antwortete Nicoletta trotzig.
»Das allein reicht aus?« Tammo sah sie zweifelnd an.
Sie seufzte. »Nein. Ich habe mich oft gefragt, wie es kommt, aber ich konnte keine Antwort finden. Mein Vater hat mich von Anfang an anders behandelt als meine Schwestern. Sie dürfen ab und zu vor ihm erscheinen und mit ihm zu Abend speisen, doch er interessiert sich nicht wirklich für sie. Mich aber hat er, schon als ich noch ganz klein war, mit auf die Dächer genommen und ist zu den Inseln mit mir hinausgerudert. So ergab es sich einfach. Vielleicht mochte mich Mutter deshalb nicht besonders.«
»Weil sie dich um deine Freiheit beneidete?«
»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich zu ihr nie ein warmes Verhältnis hatte. Auch meine Brüder finden es nicht gut, dass ich von Vater behandelt werde, als würde ich zu ihnen gehören.«
»Aber du tust es.«
»Was?«
»Zu ihnen gehören.«
Ihr Blick wurde traurig. Ja, es lag eine Verzweiflung darin, die Tammo ins Herz schnitt.
»Wie lange noch? In meinem Fall hat sich mein Vater nicht der Mehrheit gebeugt. In diesem Punkt ließ er sich nicht erweichen und nicht überstimmen, doch nachdem ich so eigenmächtig gehandelt und gegen ihre Beschlüsse verstoßen habe, wird er nun nachgeben? Er hat schon öfters von Heirat gesprochen. Dass ich langsam in das Alter käme, mir einen Mann zu suchen. Er denkt dabei an meinen Vetter Gabriele.«
»Ist das nicht der Lauf der Dinge?«, sagte Tammo sanft und kam sich plötzlich sehr erwachsen vor.
»Ich will aber nicht!«, wehrte Nicoletta ab. »Nie, nie, nie! Ich will nicht heiraten. Ich will keinem Mann gehören und mich einsperren lassen. Ich würde verkümmern und sterben.«
Tammo konnte nur vage ahnen, wovon sie sprach. Vampirinnen gingen auf die Jagd wie Vampire und lebten auch sonst nicht anders. Sie würden sich ihre Freiheit nicht nehmen lassen.
»Und was ist, wenn du dich in jemanden verliebst?«, erkundigte er sich. Tammo wunderte sich selbst ein wenig über seine Frage.
Nicoletta starrte ihn an. »Ich würde für niemanden meine Freiheit aufgeben«, erwiderte sie heftig und fügte dann noch leise hinzu: »Was zählt schon das Herz? Seit wann darf eine Frau ihrem Herzen folgen?«
Tammo wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, und so war er ganz froh, dass sie in diesem Moment das Ufer erreichten. Nicoletta sprang an Land, und er half ihr, die Gondel ein Stück am Ufer hochzuziehen. Der Steg, an dem einst Boote angelegt hatten, war verrottet und zerfallen. Nur noch ein paar Holzstümpfe ragten aus dem Wasser.
Sie machten sich schweigend zur Mitte der Insel auf, wo die Reste der Gebäude in den immer heller werdenden Himmel ragten: eine kleine zerfallene Kapelle und zwei lang gestreckte Flachbauten, in denen einst die Kranken untergebracht worden waren.
»Sehr gemütlich«, kommentierte Tammo, als er einen Blick in das erste, halb verfallene Gebäude warf. Der Wind hatte Sand hineingeweht und auf dem Boden wucherte Unkraut. Von Clarissa allerdings war nichts zu sehen.
»Wo ist sie?«
Er sah sich um und rief ihren Namen, doch als sein Blick Nicolettas Gesicht streifte, hielt er inne.
»Sie ist nicht hier.« Es war keine Frage. Er wusste es.
Nicoletta senkte die Lider.
»Du hast mich
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