Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
durch den Gang hierher zu dieser Zelle führten. Das war es. Sie schlossen mich ein und gingen davon. Zu Anfang habe ich gerufen und gefordert, den Arzt oder irgendeinen Verantwortlichen zu sprechen. Nichts geschah. Dann habe ich getobt, später geweint und gefleht und schließlich nur noch geschwiegen, während die Tage und Nächte in gleichem Einerlei an mir vorbeizogen. Mir blieb nichts als dieser Ausblick über die Lagune mit dem verheißungsvollen Schimmer der Stadt bei Nacht. Ich habe weder meinen Geliebten noch mein Kind jemals wiedergesehen.«
Sie sahen sich eine Weile schweigend an und lauschten dem Schmerz, der fast greifbar in der vergitterten Zelle hing.
»Wie heißt Ihre Tochter?«, fragte Clarissa schließlich. »Wie ist ihr Name?«
»Ich nannte sie Caramia.« Doriana blinzelte. Ihre Augen schimmerten feucht. »Aber Calvino rief sie Nicoletta.«
G ESTÄNDNISSE
Sie ruderte schnell, bis ihre Arme so sehr schmerzten, dass sie dachte, den Riemen kein einziges Mal mehr durch das Wasser ziehen zu können. Doch etwas in ihr war stärker und trieb sie an. Sie musste zurück. Calvino und die anderen wussten nicht, was mit ihr geschehen war. Sie sorgten sich sicher schon um sie. Nun, zumindest ihr Vater und Leone. Ihren Brüdern und den anderen war es vermutlich herzlich egal, was mit ihr geschah. Vielleicht waren sie sogar froh, sie auf so einfache Weise losgeworden zu sein.
Der Gedanke schmerzte.
Was hatten die Vampire erzählt? Ach, sie wollte sich gar nicht so genau erinnern, und doch brannten die Worte in ihrem Geist. Edoardo hatte behauptet, sie sei weggelaufen! Sie habe mitten in einem großen Raubzug freiwillig ihren Posten verlassen. Wie konnte ihr eigener Bruder nur so etwas sagen? So etwas überhaupt denken?
Ja, es stimmte, sie hatte einige Male eigenmächtig gehandelt, und sie hatte gegen den Willen und das Wissen der anderen Clarissa weggebracht, aber das war eine gute Tat gewesen, die ihr Vater und Leone zumindest im Stillen ganz bestimmt gutheißen würden. Die Oscuri waren keine Mörder. Egal ob Mensch oder Vampir.
Nicoletta verließ den Canale di San Marco und steuerte das Boot nun über den Rio della Tana, einen schmalen Kanal, der um das abgesperrte Gelände der großen Werft herumführte und dann vor der olivenförmigen Insel mündete, auf der der Patriarcale einst in seinem Palast gelebt hatte. Die Gondel glitt an der hohen Mauer entlang, die das Arsenal auf allen Seiten umgab. Dahinter war verbotenes Gelände. Hier wurden früher die schnellen Galeeren gebaut, auf denen sich Reichtum und Ruhm der Republik gründeten. Unzählige Arbeiter hatten hier über Jahrhunderte Handelsschiffe gebaut, aber auch Kriegsschiffe ausgerüstet, um die wertvollen Güter und die Lagunenstadt selbst zu schützen – vor dem Erzrivalen Genua und später vor den anrückenden Türken, die ganz Europa in ihren Würgegriff nahmen.
Gegen Napoleon dann konnten sie nichts mehr ausrichten. Er kam von Westen her und nahm sich die stolze, unabhängige Republik einfach, um sie dann der österreichischen Besatzung zu überlassen und später dem Königreich Italien anzugliedern.
Doch das alles interessierte Nicoletta im Moment nicht. Wichtig war, dass der größte Teil des Arsenals heute stilllag. In den riesigen Wasserbecken und den umliegenden Hallen wurden nur noch wenige Schiffe gebaut, und so hatten sich die Oscuri eines der Werkhäuser, das nicht mehr benutzt wurde, zu einem sicheren Versteck ausgebaut.
Nicoletta hielt an einem unauffälligen Wassertor, öffnete es und schob die Gondel unter dem Mauerbogen hindurch. Sorgsam verriegelte sie das Tor wieder und vertäute dann die Gondel an einem Steg, an dem bereits einige andere Boote der Oscuri – von allen Blicken durch die umstehenden Lagerhäuser verborgen – festgemacht hatten. Nicoletta stieg aus und huschte im Schatten der verlassenen Lagerhallen und Werkstätten zum Eingang des Verstecks. Von außen sah die alte Seilerei verlassen und ein wenig verfallen aus, doch im Inneren hatten sich die Schemen ein Quartier eingerichtet. Die Tür war durch einen besonderen Mechanismus gesichert, der die Oscuri vor unerwartetem Besuch schützte. Nicoletta entsicherte den verborgenen Riegel auf der Scharnierseite der Tür und schlüpfte ins Innere. Sie stieg über die beiden Drähte hinweg, die den Alarm ausgelöst hätten, und schob dann einen scheinbar festen Teil der Wand zur Seite, der eine Treppe in den oberen Stock verbarg. Hier befanden sich die
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