Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
gemütlich eingerichteten Räume, in denen sich die Oscuri zurückzogen, um zu ruhen oder um ihre Fechtübungen abzuhalten, oder wo sie sich trafen, um Pläne zu schmieden. Und hier lebte Tommaso, der die Oscuri vor Nicolettas Zeit angeführt hatte. Er war ein guter Führer gewesen, zumindest sagte das Calvino, bis ihm eines Nachts die österreichische Militärpolizei zu dicht auf die Fersen kam. Er kämpfte mit einem jungen Feldwebel, dessen Säbelstoß ihn verfehlte – dachte Tommaso zumindest. Er bemerkte nicht, dass die scharfe Klinge seinen Umhang aufgeschlitzt hatte. Es gelang ihm, seinen Gegner aus dem Gleichgewicht zu bringen und sich seinem Griff zu entziehen. Frohen Mutes floh er über die Dächer von Venedig, so wie es die Oscuri noch heute taten, sprang, um über einen Kanal zu segeln – und stürzte in die Tiefe.
Es gelang seinen Brüdern, ihn zu retten und zu ihrem Versteck zurückzubringen, doch seitdem konnte Tommaso nicht mehr gehen, und einer seiner jüngeren Brüder – Calvinos Vater – hatte die Führung des Clans bis zu seinem Tod übernommen. Seitdem lebte Tommaso hier im Arsenal. Er war ihr Mittelpunkt, bei dem alle Fäden zusammenliefen. Er war ihr Gedächtnis, denn es war immer gefährlich, Dinge aufzuschreiben. Briefe konnten in falsche Hände geraten. Rituale ausgekundschaftet werden. So wechselten die Oscuri unregelmäßig ihre Quartiere, besuchten ihre Frauen und Töchter und kehrten dann zum Arsenal oder in eines der anderen Verstecke zurück, und nur Tommaso wusste, wer wo zu finden war und was die Familie als Nächstes plante. Seine Beine hatten ihn zwar schon vor Jahrzehnten im Stich gelassen, doch sein Geist war noch immer scharf und hellwach. Er vergaß nie etwas! Daher suchte Nicoletta ihn als Erstes auf, um zu fragen, wo sie ihren Vater finden würde. Sie hatte Glück. Nicht nur Calvino saß auf einem Diwan in Tommasos Gemach, auch ihre Onkel Leone und Michele, ihr Bruder Edoardo und die Cousins Matteo und Gabriele waren da. Während die älteren Oscuri sich mit Tommaso unterhielten, übten sich Matteo und Gabriele im Fechtkampf.
Ihr Bruder entdeckte Nicoletta, als sie lautlos das Zimmer betrat.
»Sieh an, die Verlorene hat sich wieder eingefunden«, sagte er mit träger Stimme, die keine Freude ausdrückte. Calvino fuhr herum, sprang auf und eilte ihr entgegen. Er schloss sie in die Arme, und auch Leone war sichtlich erleichtert, sie unversehrt wiederzusehen. Ihre Cousins ließen die Degen sinken.
»Ich wusste es doch, dass sie irgendwann wieder auftaucht«, meinte Edoardo. »Es war absolut unnötig, sich Sorgen zu machen.«
Calvino drückte sie noch einmal an sich, dann ließ er sie los und führte sie zu einem der weichen Sitzkissen des in orientalischer Pracht eingerichteten Zimmers.
»Was ist passiert?«, drängte er. »Wo warst du so lange?«
»Passiert?«, antwortete Edoardo an ihrer Stelle. »Ihr war wohl langweilig, und sie hat etwas Besseres zu tun gehabt, als die Aufgabe zu erfüllen, die man ihr zugeteilt hat.«
Nicoletta fiel ihm ins Wort. »Nein, mir war nicht langweilig – ich meine, zumindest nicht so, dass ich meinen Posten verlassen hätte. Wie euch vielleicht aufgefallen ist, war unser Plan nicht nur uns bekannt. Mehrere Vampire haben bereits auf uns gewartet. Einem von ihnen ist es gelungen, mich zu überwältigen und zu verschleppen.«
Edoardo stieß einen verächtlichen Ruf aus. »Du hast dich von einem Vampir überraschen lassen?«
»Ja, denn sie verfügen über Magie und sind sehr viel stärker als wir«, verteidigte sich Nicoletta, obgleich es ihr unter den erstaunten Blicken der anderen peinlich war, diese Schmach zuzugeben. Nannte man die Oscuri nicht ehrfürchtig Larvalesti? Die flüchtigen Schemen, die keiner fassen konnte?
Das galt für Menschen. Nicht für Vampire.
»Ja und? Gegen unsere Waffen sind sie nicht immun. Der magische Staub raubt ihnen ihre Kräfte.«
»Ich habe den Vampir aber nicht kommen hören«, stieß Nicoletta zwischen den Zähnen hervor. »Er hat mich zu Boden geworfen und überwältigt, ehe ich an meinen Beutel herankommen konnte. Außerdem besitzen sie auch Degen«, fügte sie hinzu, obwohl sie die Klingen lediglich auf dem Dachboden gesehen, Tammo aber keine mit sich geführt hatte.
»Zum Glück ist dir nichts geschehen, mein Kind«, warf Calvino ein, und sein Ton sagte deutlich, dass er diesen Teil des Gesprächs für beendet hielt, aber Edoardo ließ nicht locker.
»Michele und ich wurden auch von
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