Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
stärkten sich ausgiebig, ehe sie ihren Weg fortsetzten.
Schließlich erreichten sie die Kirche Spirito Santo und dahinter den befestigten Kai, an dem die großen Flöße mit Bauholz aus dem Norden anlandeten. Links von ihnen reihten sich Lagerhäuser, in denen früher vor allem das Salz, das in den Salinen der Lagune gewonnen wurde, bis zu seinem Transport in alle Welt zwischengelagert worden war. Salz war stets ein wertvolles Gut gewesen und hatte der Stadt viel Geld gebracht.
Sie schlenderten am Wasser entlang und ließen den Blick über den breiten Canale della Giudecca wandern, durch den die großen Schiffe ihren Weg durch das Bacino de San Marco und vorbei an der schützenden Lidobarriere ins offene Meer antraten. Ein mächtiges Dampfschiff lag nahe der Punta della Dogana vor Anker. Dahinter ragte ein Dreimaster auf.
Luciano und Clarissa umrundeten die Kirche und wollten sich gerade wieder auf den Rückweg machen, als Clarissa stehen blieb und die Nase in die Luft reckte.
»Dieser Geruch, was ist das? Es erinnert mich an etwas, das ich vergessen habe. Ich bin auf einmal so müde. Was war es nur? Ich weiß, es ist noch nicht lange her, und doch kann ich mich nicht erinnern.«
Luciano vernahm ihr Gemurmel, konnte sich aber keinen Reim darauf machen.
»Kannst du es nicht wittern?«, fragte sie ihn, schloss die Augen und drehte sich einmal um ihre Achse. »Es ist lieblich und verlockend, aber trügerisch, wie Gift in einem süßen Trunk.«
Luciano sog tief die Luft ein und musste niesen. »Ich rieche gar nichts. Aber irgendetwas ist in der Luft.« Er nieste noch einmal. »Es ist nur Ruß«, behauptete er. Er trat an das Kirchenportal, strich mit dem Finger über den eisernen Knauf und hielt Clarissa die graue Fingerkuppe hin. »Nur der Schmutz aus den vielen Kaminen.« Er nieste ein drittes Mal.
Er nieste! Vampire mussten nie niesen. Es war merkwürdig. Ganz langsam begann er sich im Kreis zu drehen, so als müsse er sich erst wieder klarmachen, wo er sich befand.
»Kehren wir um«, sagte er und ging dann ein wenig unsicher auf eine Gasse zu, die nach Westen führte. Sie kamen nicht weit, da versperrte ihnen ein Kanal den Weg. Luciano runzelte die Stirn. Er wandte sich nach rechts. Ein finsterer Sottoportego, einer der unzähligen tunnelartigen Durchgänge Venedigs , führte unter dem Haus durch in eine weitere Gasse, die noch schmaler war. Wieder wand sich die Gasse um eine Ecke, nur um sie dann dort auszuspucken, wo sie vor wenigen Minuten gestartet waren.
Luciano hatte sich selten so geschämt. Ein Vampir verlief sich nicht. Vor allem nicht, nachdem er ein Akademiejahr bei den Pyras in Paris zugebracht hatte. Er müsste sich hier blind zurechtfinden und natürlich jederzeit seine eigenen Spuren zurückverfolgen können.
Wo aber waren seine Spuren?
Luciano schüttelte ein wenig irritiert den Kopf. Beeinflusste das viele Wasser seine Sinne? An diese Möglichkeit hatte er gar nicht gedacht. Sie hatten fast den Höchststand der Flut erreicht. Ob es daran liegen konnte?
Clarissa wandte sich einer anderen Gasse zu, die ihm vage bekannt vorkam. Sie bog um einige Ecken, schlüpfte durch einen Sottoportego und ging dann ein Stück am Ufer eines Kanals entlang. Luciano fragte sich gerade, wo um alles in der Welt sie waren, als sie auf den kleinen Campo traten, der an die Mauer ihres Gärtchens stieß.
»Da sind wir ja wieder«, sagte Luciano betont fröhlich, um sich seine Verwirrung nicht anmerken zu lassen, doch Clarissa sah ihn mit einem seltsamen Ausdruck an. Sie öffnete die Tür und trat in den Hof. Noch immer schweigend, stieg sie die Treppe zum Saal hinauf.
»Ich lege mich in meinen Sarg«, sagte sie nur. »Was soll ich sonst hier tun, gefangen auf meiner kleinen Insel?«
Luciano sah ihr nach, wie sie die schmale Stiege hinauf verschwand. Dann hörte er den Deckel ihres Sargs zuklappen. Er selbst nahm sich einen Sessel und schob ihn an eines der bogenförmigen Fenster, die zum Canalazzo hinauszeigten. Er sah über den breiten Kanal, auf dem sich schattenhaft einige Gondeln bewegten. Auch er fühlte sich seltsam schläfrig, obgleich der Himmel noch samten schwarz war. Sein Blick wanderte zu dem riesigen Palast schräg gegenüber, der sich zwischen einem schmalen Kanal und einem kleinen Platz mit einem Anleger erhob. Nicht umsonst hatte er den Beinamen Ca’ Grande. Die drei Hauptstockwerke waren vermutlich doppelt so hoch wie die der beiden Nachbarhäuser. Heute befand sich die Präfektur im Palazzo
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