Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
werden können. Allerdings hatte hier im Palazzo Dario vermutlich seit Jahren kein Kaminfeuer mehr gebrannt, sodass sich die Feuchte vom Erdgeschoss in die oberen Stockwerke hatte ausbreiten können. Doch die Vampire störte weder der kühle Luftzug, der durch die undichten Fenster hereinwehte, noch die Kälte, die vom steinernen Boden aufstieg. Es war die Kälte der unausgesprochenen Worte, die unangenehm zwischen ihnen hing.
Sie beschlossen, hinauszugehen und sich an einem nächtlichen Spaziergänger zu stärken und anschließend weiter am Überwinden der Brücken zu arbeiten. Clarissa frohlockte, als es ihr endlich gelang, auf die andere Seite zu kommen, doch Luciano musste ihr gleich einen Dämpfer verpassen. Der Wechsel der Gezeiten lag kaum mehr als eine Stunde zurück. Sie nutzten die Gelegenheit, einen Spaziergang über diese und die nächste Brücke zu unternehmen und sich ein weiteres Stück der Stadt anzusehen. Dann mussten sie umkehren. Clarissa spürte, dass es mit jedem Mal wieder schwerer wurde, über das Wasser zu kommen.
Erschöpft, frustriert und mit schmerzenden Gliedern kehrten sie in den Palazzo zurück. Clarissa rückte sich einen Stuhl ans Fenster und sah sehnsuchtsvoll zu den erleuchteten Gondeln hinunter, die unzählige Passagiere zu ihren abendlichen Vergnügungen brachten: in eines der Theater der Stadt, zum berühmten Opernhaus La Fenice, einem festlichen Bankett in einem der Palazzi oder gar einen Maskenball, bei dem bis in die Morgenstunden ausgelassen geflirtet und getanzt werden würde. Clarissa seufzte tief. Luciano fing ihre Gedanken auf. Es fiel ihm nicht schwer, ihnen zu folgen, denn ihn bewegte Ähnliches.
»Warte noch ein paar Tage, bis sich die Gezeiten entsprechend verschoben haben, dann können wir am Abend ausgehen und am Morgen vor Sonnenaufgang zurückkehren, ohne dass es dir zu große Schmerzen bereiten sollte«, versprach er.
»Ich habe ja nicht einmal ein Kleid, um ins Theater oder auf einen Ball zu gehen«, sagte sie und deutete an sich herunter.
Luciano fand zwar, dass sie in ihrem Kleid trotz der langen Reise noch immer blendend aussah, doch er kannte Vampirinnen inzwischen gut genug, um zu wissen, dass sie seinen Einwand nicht würde gelten lassen.
»Ich bringe dir ein paar Kleider mit«, sagte er eifrig und fügte beiläufig hinzu: »Wenn ich mir einen neuen Frack machen lasse.«
Clarissa schüttelte den Kopf. »Wie stellst du dir das vor? Du kannst nicht einfach irgendwo eine Abendgarderobe kaufen, die mir passt. Sie muss ausgemessen werden und dann passend geschneidert.«
Luciano sprang auf. Er hielt es in dem Palazzo einfach nicht mehr aus. Er kam sich zunehmend wie ein Gefangener vor.
»Ich lasse mir etwas einfallen«, versprach er und küsste sie flüchtig auf die Wangen. »Bin bald wieder da!«
Nach seiner kläglich gescheiterten Wandlung in der vergangenen Nacht hielt er es für klüger, das Haus über die Treppe und den Hof zur Gasse hin zu verlassen. Behutsam zog er das Tor hinter sich zu und schloss es sorgfältig ab. Gleich war ihm leichter ums Herz. Natürlich wusste er, dass Clarissa nicht gern alleine zu Hause saß, aber insgeheim war er froh um ein paar unbeschwerte Stunden.
Je weiter er sich vom Palazzo entfernte, desto leichter wurde sein Sinn. Er ging aus, sie blieb daheim und wartete auf ihn. Na und? So ungewöhnlich war das nicht. Hier in Venedig schien es sogar üblich zu sein. Nur die Frauen aus dem Volk sah man in den Gassen. Sie mussten nicht selten mitarbeiten, um die Familie zu ernähren. Als Segelnäherin oder Gehilfin in der Werkstadt ihres Mannes. Sie gingen einkaufen und schleppten das Wasser aus dem Brunnen, den es auf jedem Campo gab, ins Haus. Die Frauen von Adel blieben in ihrem reich ausgestatteten Palazzo den Augen der Öffentlichkeit verborgen. Nur zu besonderen Anlässen verließen die vornehmen Venezianerinnen den Palazzo, dann aber angetan mit den prächtigsten Gewändern und kostbarem Schmuck, um bei einem Bankett oder im Theater, bei einer wichtigen Prozession oder einem Ball die Ehre der Familie und ihr Ansehen zu heben. Dann schritt ihr Gatte an ihrer Seite, oder er überließ diese zuweilen mühsame Aufgabe einem Cicibeo, einem sogar in vielen Eheverträgen festgehaltenen Galan, der als Begleiter der Dame fungierte und im ursprünglichen Sinn über ihre Tugend wachen sollte, doch Luciano hatte von nicht wenigen Fällen gelesen, in denen gerade der angebliche Wächter, der jederzeit Zutritt zu den Gemächern der
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