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Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)

Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)

Titel: Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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der einst reichsten Familie Corner, die im Laufe der Jahrhunderte eine ganze Handvoll Palazzi am Canal Grande hatte erbauen lassen. Lucianos Blick schweifte nach rechts den Kanal hinunter, wo der Palazzo Pisani Gritti hell erstrahlte. Hinter den Fenstern flackerte das Licht unzähliger Kerzen, und auch unten am Steg brannten Fackeln und beleuchteten die zwei Gondeln, die gerade ein paar Gäste abholten. Sie waren in farbenfrohe barocke Kostüme gekleidet, einen weiten Umhang über den Schultern und eine Halbmaske vor dem Gesicht. Feierten die Venezianer bereits im Oktober Maskenbälle? Offensichtlich! Vermutlich war ihnen die Ballsaison vom ersten Weihnachtstag an bis Aschermittwoch zu kurz gewesen, sodass sie nun die Zeit der Narreteien bereits im Oktober starteten.
    Das glockenhelle Lachen einer jungen Frau schallte bis zu ihm herüber. Sie stand schwankend in der Gondel und klammerte sich an ihrem Kavalier fest, der ebenfalls Schwierigkeiten zu haben schien, das Gleichgewicht zu wahren.
    Luciano spürte, wie sich seine Zähne hervorschoben. Gier wallte in ihm auf, obgleich er heute Nacht schon getrunken hatte. Er wollte frisches, warmes Blut.
    Warum auch nicht? Er musste sich nur wandeln und über den Kanal fliegen. Schon konnte er seinen Arm um die Schultern dieses verlockenden Geschöpfes legen. Clarissa schlief in ihrem Sarg. Sie würde nichts bemerken, und außerdem war nichts Schlechtes daran, wenn er seinen Durst noch einmal stillte.
    Schon schob er das Fenster auf und schwang sich auf den Sims. Nun musste er sich nur noch auf die Gestalt konzentrieren, die er einnehmen wollte, eine Quelle der Kraft suchen und sie mit der seinen vereinen. Er rief das Bild einer Fledermaus in seinen Geist und spürte das vertraute Flimmern in seinem Kopf. Kraftvoll stieß er sich vom Fensterbrett ab. Er stellte sich vor, wie er seine Schwingen entfaltete und sich auf den Strömen der Luft herabgleiten ließ, bis der Wind ihn auffing und sanft übers Wasser trug.
    Stattdessen fiel er. Immer schneller. Bis er auf das Wasser traf. Eisiges Wasser, das über ihm zusammenschlug und ihn verschlang.
    Luciano war so verdutzt, dass er erstarrte und sich reglos herabsinken ließ. Es war absolut finster um ihn, doch endlich spürte er, wie der Fall seines Körpers von weichem Schlamm gebremst wurde. Noch immer war er fassungslos. Was war da eben geschehen? Hatte er sich nicht in eine Fledermaus verwandelt?
    Offensichtlich nicht. Aber so etwas war ihm seit mindestens zwei Jahren nicht mehr passiert!
    Luciano schüttelte ratlos den Kopf. Seine Hand verfing sich in etwas Weichem, Undefinierbaren. Vielleicht sollte er erst das Wasser verlassen und dann weiter über sein Missgeschick nachdenken?
    Er stieß sich vom Grund ab und paddelte mit den Armen, bis er wieder an die Oberfläche kam. In der Ferne sah er die Gondel mit dem Objekt seiner Begierde verschwinden, doch für den Moment war ihm der Appetit vergangen.
    Triefnass kletterte er die Stufen zum Wassertor hinauf. Er durchquerte die Halle und nahm die Treppe in den Saal, eine nasse Spur hinter sich herziehend, die ihm auch noch zwei weitere Stockwerke folgte. Luciano zog die triefenden Sachen aus und warf sie über eine Kommode. Dann wickelte er sich in seinen Umhang, legte sich in seinen Sarg und klappte den Deckel zu.
    ***
    »Was hast du mit deinem Frack gemacht?«
    Clarissas Stimme war das Erste, was er am nächsten Abend hörte. Luciano klappte den Deckel auf und rieb sich die Augen. Sein Blick richtete sich auf Clarissa, die seinen zerknitterten und mit Schlamm verschmierten Frack in den Händen hielt. Da fiel ihm alles wieder ein, und die Scham hätte seine Wangen gerötet, wäre genug Blut in seinen Adern geflossen. Er stieg aus seinem Sarg, den Umhang eng um sich gewickelt, stürmte auf Clarissa zu und nahm ihr unsanft seinen Frack aus den Händen.
    »Frag nicht«, brummte er und eilte hinaus, so schnell es ihm der Umhang um seine Beine erlaubte. Er spürte Clarissas fragenden Blick in seinem Rücken, doch er wollte nicht darüber sprechen. Er wollte nicht einmal darüber nachdenken. Zu sehr ängstigte ihn das, was dabei herauskommen konnte.
    Clarissa traf ihn wenig später im großen Salon, der über dem Ballsaal lag. Sie erwähnte den Vorfall nicht, obwohl er ihr bei jedem Blick auf Luciano in seinem ruinierten Frack geradezu ins Gesicht springen musste.
    Der Salon im zweiten Stock hatte eine etwas niedrigere Decke als der Saal darunter und hätte eigentlich besser geheizt

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