Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Dame hatte, oft nicht nur die Pflicht des Gatten übernahm, die Gemahlin ins Theater zu begleiten.
Allein schon die Vorstellung, Clarissa könnte sich solch einen Galan wählen, ließ heiße Eifersucht in ihm aufbrodeln. Nein, Luciano würde sie nur allzu gern zu jedem Fest begleiten, nach dem ihr der Sinn stand, und mit ihr die ganze Nacht durchtanzen, bis der Morgen graute.
Sie würden schon eine Lösung finden. Bald. Da war er sich ganz sicher.
F LÜCHTIGER B ESUCH
Clarissa saß da und starrte aus dem Fenster. Sosehr sie sich bemühte, das Gefühl zu unterdrücken, sie konnte nicht anders, als Luciano um seine Freiheit zu beneiden und ihm allmählich übel zu nehmen, wie er sich verhielt. Dass er sie so leichtfertig in diese Stadt voller Wasser gebracht hatte, dass er sie hier alleine ließ, während er sich amüsierte, und dass er es nicht schaffte, ihr die Grundlagen der Magie beizubringen, die sie brauchte, um hier zurechtzukommen.
Mit einem tiefen Seufzer ließ sie ihr Kinn in die Hände sinken. Sie dachte an Alisa und Leo. Die beiden wären sicher in der Lage, ihr zu helfen. Sie waren von jeher brillant gewesen und hatten nicht nur Neues rasch gelernt, sie konnten es auch weitergeben. Warum konnte Luciano das nicht? Sie versuchte, gegen den Groll anzukämpfen, der in ihr aufstieg.
»So allein in dieser Nacht, junge Dame?«
Wenn ihr Herz noch geschlagen hätte, wäre es vor Schreck sicher stehen geblieben. Clarissa zuckte zusammen und fuhr mit weit aufgerissenen Augen herum.
Sie hatte ihn nicht kommen hören und auch nicht gespürt, dass sie nicht mehr allein im Haus war. Zwar hatte sie ihren Gedanken nachgehangen, doch hatte Luciano ihr nicht stets versichert, dass man einen Vampir nicht überraschen konnte? Dass seine scharfen Sinne ihn stets rechtzeitig warnten?
Was war sie doch für eine lausige Vampirin! Sich von einem Menschen in ihrem eigenen Heim überrumpeln zu lassen.
Sie hob die Augenbrauen und versuchte, wie ihre Mutter früher, ihre Unsicherheit mit Überheblichkeit zu überspielen.
»Ich kann mich nicht erinnern, Sie eingeladen zu haben. Ja, ich bin mir sicher, wir wurden einander nicht einmal vorgestellt.«
Der Mann – zumindest klang seine Stimme tief wie die eines Mannes – lachte leise. Seine Stimme klang angenehm. Er kam leichtfüßig und elegant ein paar Schritte näher. Das war aber auch das Einzige, was sie über ihn sagen konnte, denn ein weiter Kapuzenmantel verhüllte seine Gestalt, und er trug die typisch venezianische Halbmaske vor dem Gesicht, die seine Züge verbarg und nur den Mund und das Kinn freiließ.
Ein energisches Kinn. Glatt rasiert.
Also ein junger Mann? Das war schwer zu sagen. Auf alle Fälle zumindest ein Mensch, das zeigte ihr die Wärme, die von seinem Körper aufstieg und ihn wie eine schimmernde Wolke im dunklen Salon umgab.
Richtig, sie hatte keine Kerzen angezündet. Wie konnte er sie mit seinen schwachen menschlichen Augen überhaupt sehen?
Dass er dies sogar außergewöhnlich gut konnte, verrieten seine nächsten Worte. Er verbeugte sich mit einem altmodischen Kratzfuß und schwang den Dreispitz, den er über der Kapuze trug.
»Es tut mir leid, einer so schönen, jungen Dame wie Ihnen Unannehmlichkeiten zu bereiten«, sagte er in so angenehmem Tonfall, dass seine Worte nicht weiter ins Gewicht fielen. »Ich weiß, Sie sind nicht von hier, daher möchte ich Sie auf etwas hinweisen, ehe es unangenehm für Sie wird.«
Er trat noch näher, ohne dass sie ihn dazu aufgefordert hätte, und Clarissa spürte, wie sich ihre Instinkte regten. Es war nicht der Blutdurst, der sie oft sehr heftig überfiel, wenn ihr der Duft von Menschen in die Nase stieg. Es war ein Gefühl von Furcht, das sie eigentlich schon beinahe vergessen hatte. Furcht, die sich ganz plötzlich zu panischer Angst steigern konnte.
Wieso sollte sie vor diesem Mann Angst haben? Er war doch nur ein schwacher, sterblicher Mensch, oder etwa nicht? Sie starrte wie hypnotisiert in seine schwarzen Augen, unfähig sich zu bewegen, während er Schritt für Schritt näher kam.
***
Alisa und Leo gingen den Jungfernstieg entlang. Es war eine windige Herbstnacht. Der Alstersee kräuselte sich unter den Böen, und außer ein paar Enten, die verspätet zu ihren Schlafplätzen zurückkehrten, war niemand mehr auf dem Wasser. Ganz im Gegensatz zu den lauen Sommernächten, in denen noch bis spät in die Nacht Ruderboote jeder Größe unterwegs waren, deren Buglaternen wie Glühwürmchen über
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