Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
müssen etwas unternehmen«, unterbrach sie die Stille.
»Sei nicht so ungeduldig. Er wartet auf etwas, das so wichtig ist, dass er trotz seiner Müdigkeit nicht ins Bett geht. Wenn es für ihn wichtig ist, ist es das für uns vielleicht auch. Geduld kann sich durchaus auszahlen.«
Alisa schnaubte durch die Nase. »Wir sind bereits verdammt lange geduldig! Es muss schon nach drei sein. Wie viele Stunden wollen wir hier noch untätig vor dem Fenster verharren?«
»Bis das eintritt, worauf der Wirt wartet«, gab Leo sanft zurück, was Alisa noch mehr aufregte.
»Wie kannst du nur so ruhig bleiben?«
Leo lächelte und sah plötzlich beunruhigend gefährlich aus. »Das ist die schärfste Waffe des Jägers. Im Verborgenen warten und das Opfer in Sicherheit wiegen, bis der rechte Moment gekommen ist, und dann wie ein tödlicher Pfeil aus dem Verborgenen zuschlagen.«
Seine Hand zischte bei seinen Worten so unvermittelt nach vorn, dass Alisa zusammenzuckte.
»Du hast recht«, sagte sie ein wenig beschämt. »Ich bin eine schlechte Jägerin.«
Er hauchte ihr einen Kuss auf die Nase. »Sagen wir, eine ein wenig ungeduldige.«
Sie sah in seine dunklen Augen, in denen ein Feuer loderte, das sie anzog und doch noch immer ein wenig erschreckte. Ihre Finger berührten sich. Er kam noch näher, bis sein Duft sie wie eine Aura umhüllte. Sie schob ihre Hände in seine und legte ihre Lippen auf seinen Mund. Nach wie vor jagten seine Berührungen ihr Schauder wie Blitze durch den Körper, und sie war froh, als Vampir nicht atmen zu müssen. Vermutlich wäre sie als Mensch jedes Mal in Ohnmacht gesunken, wenn er sie berührte.
»Das wäre aber ganz schön lästig«, gurrte er zwischen zwei Küssen.
Sie versanken.
Oder die Welt um sie herum? Alisa wusste es nicht. Venedig, die Larvalesti, ihre Aufgabe. Alles verschwand im Nebel und war für diesen Moment vergessen. Es gab nur noch sie beide. Ihre Hände, ihre Lippen, ihre Körper, die sich aneinanderschmiegten. Es war ein seltsames Gefühl des Schwebens, als habe sich auch der Boden unter ihren Füßen aufgelöst.
Alles nur ein schöner Traum?
Und dennoch spürte Alisa ihren Körper intensiv wie nie. Es hätte ewig andauern können!
Leo löste seine Lippen von ihr und zog eine Grimasse. Dann nieste er herzhaft.
Die beiden starrten einander an. Der Traum verwehte. Der feste Boden des kleinen Campo, Venedig und ihr Auftrag kehrten zurück.
Was zum Teufel taten sie hier eigentlich?
Alisa sah auf ihre ineinander verschränkten Hände herab, die ei n Hauch von feiner Asche grau gefärbt hatte. Leo folgte ihrem Blick.
»Verflucht!«
Er ließ sie los und sah nach oben, wo noch immer feiner Staub in der Luft tanzte. Für einen Wimpernschlag erschien die dunkle Silhouette eines von einer Kapuze verhüllten Kopfes über der Dachkante, dann war er verschwunden.
Leo fluchte noch einmal vernehmlich und lief los. Er musste einen Weg hinauf zu den Dächern finden. Vergeblich rüttelte er an zwei verschlossenen Türen, bis er eine dritte fand, die seiner Kraft nicht standhielt und mit einem Knarzen nachgab. Er stürzte die Treppen des heruntergekommenen Mietshauses hinauf, während Alisa die Tür zum Schankraum der Osteria aufstieß. Sie sah mit einem Blick, dass der Raum nun leer war.
Wie hatte ihnen so etwas passieren können? Wo war der Wirt? Alisa durchmaß den Raum mit langen Schritten, trat hinter die Bar und schob eine schmale Tür auf, die in die Küche und von dort zur Hintertür führte. Sie stand einen Spalt offen. Alisa durchmaß die Küche und legte ihre Hand gerade auf die Klinke, als die Tür aufgezogen wurde und der Wirt unvermittelt vor ihr stand.
Sie wichen beide überrascht zurück.
Warum hatte sie ihn nicht gewittert?
Die Antwort klebte noch als feine Asche auf ihrer Hand. Beschämt musste sie sich eingestehen, dass sie sich wieder von einem Larvalesti übertölpeln hatten lassen.
»Signorina, was suchen Sie hier?«, fragte der Wirt ein wenig unwirsch. »Wir haben geschlossen, und Sie sollten um diese Uhrzeit ganz sicher nicht alleine unterwegs sein.«
Alisa fixierte ihn. Er war etwa mittelgroß, vielleicht um die fünfzig Jahre alt, Haar und Bart ergraut. Sein gewölbter Wams sprach davon, dass er gern mit seinen Gästen aß und trank. Er wirkte völlig harmlos.
»Wer sagt denn, dass ich alleine unterwegs bin?«, gab sie zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Fast ein wenig erschrocken blickte der Wirt sich um, konnte aber niemanden entdecken. Sie
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