Die Erben der Nacht - Oscuri: Band 6 (German Edition)
Schlaf wollte nicht zurückkehren. Nicoletta konnte Stimmen hören. Sie erkannte den dunklen Ton des Vaters, der eindringlich auf jemanden einsprach, dann eine hellere Stimme, erregt und energisch. Noch eine Stimme. Das war ihr Cousin Matteo, Leones Sohn. Er war kaum drei Jahre älter als sie, zählte sich aber gern schon zu den Männern. Nicoletta lauschte. Ganz langsam schlug sie die Decke zurück, durchquerte das zunehmend dämmrige Zimmer und blieb dann stehen, als sie die Forderung ihres Cousins hörte.
»Was sollen wir mit so einer anfangen? Sie taugt zu nichts mehr. Sie ist nur noch verbranntes Fleisch, und noch dazu gefährlich wie ein verletzter Panther. Bringen wir zu Ende, was wir ohne Absicht begonnen haben. Das ist für alle am besten.«
»Für alle außer für sie«, erklang die Stimme des Vaters.
»Bist du sicher?«, widersprach Edoardo, ihr ältester Bruder, der im Sommer zwanzig Jahre alt geworden war. »Wie kann sie auf diese Weise weiterexistieren? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihre Leute sie in diesem Zustand zurückhaben wollen. Wie Matteo bereits sagte, sie sind wie wilde Tiere. Vermutlich würden die anderen Vampire sie in diesem Zustand selbst töten, um keinen in ihrer Mitte wissen zu müssen, der die ganze Gruppe schwächt und angreifbar macht.«
»Sie sind reißende Bestien, die Nacht für Nacht im Rudel auf Menschenjagd gehen«, mischte sich nun Daciano ein, Leones ältester Sohn, der im gleichen Jahr geboren war wie Edoardo. »Wir erweisen Venedig einen Gefallen, wenn wir die Stadt von solch einem Blutsauger befreien.«
»Alessandro und Filippo sind übrigens auch dafür«, ergänzte Edoardo.
»So, so, ihr habt also mit den anderen bereits darüber gesprochen, und nun soll ich es vollenden«, hörte Nicoletta ihren Vater sagen. Seine Stimme klang so ruhig und emotionslos, dass sie nicht heraushören konnte, wie er über die Sache dachte. Sie trat noch einen Schritt näher an die Tür heran und lauschte mit angehaltenem Atem.
»Und, habt ihr auch schon Michele, Leone und Flavio gefragt?«
»Michele und Flavio sind dafür«, antwortete Edoardo sofort.
Was bedeutete, dass sich wenigstens der jüngste ihrer drei Onkel gegen diesen heimtückischen Mord aussprach. Das beruhigte Nicoletta ein wenig, denn ihr Vater hielt viel von Leone, der der Schnellste von ihnen war und vielleicht auch der Schlauste.
Was aber auch hieß, dass die Mehrheit der männlichen Oscuri dafür war. Was Frauen und Mädchen dachten, zählte nicht. Nicoletta war die Einzige, die am Leben der Männer und Jungen teilhatte.
Noch.
Ihr Vater erhob wieder das Wort und ließ sie die Ohren spitzen.
»Ihr meint also, ich solle es beenden.«
»Ich kann es tun«, bot Matteo mit einem Eifer an, der Nicoletta Übelkeit in ihrem Magen aufsteigen ließ. In diesem Moment hasste sie ihren Cousin. Er lechzte so sehr nach Anerkennung und Macht, dass er jeden Skrupel bedenkenlos beiseiteschob, doch zum Glück lehnte ihr Vater ab.
»Nein, das wirst du nicht. Das ist meine Entscheidung und auch meine Verantwortung, die Tat auszuführen.«
»Verzeih, Calvino«, widersprach Matteo, »du bist unser aller Padre , das will auch keiner infrage stellen, dennoch haben wir Oscuri stets gemeinsam entschieden und sind den Stimmen der Mehrheit gefolgt. Das war seit unzähligen Generationen gut für uns.«
Nicoletta spürte den Zorn, der auch ihren Vater bei den Worten des jungen Ehrgeizlings erfassen musste. Nun müsste er ihm eine Lektion erteilen und ihn auf seinen Platz verweisen, doch zu ihrem Entsetzen gab der Vater nach.
»Es ist nicht meine Absicht, das Bewährte infrage zu stellen. Wir Oscuri haben uns stets an den Vorsatz gehalten, keine Gewalt anzuwenden. Wir nehmen uns, was uns gefällt, aber wir töten nicht!«
»Wir töten keine Menschen«, widersprach Matteo. »Dieses Wesen ist aber kein Mensch. Es ist nur ein Blutsauger, der so viel Rücksicht nicht verdient hat.«
Nicoletta ballte bei seinen Worten die Fäuste. Hatte Matteo das zu entscheiden? Er erdreistete sich, sich an Gottes Stelle zu setzen und den Richter über Leben und Tod zu spielen!
Sie hörte ihren Vater seufzen und ahnte, dass er schwer mit der Entscheidung haderte, doch zu ihrem Entsetzen sagte er schließlich:
»Ich werde mich dem Mehrheitsentschluss nicht entgegenstellen. Wenn es denn sein muss, dann werde ich es tun. Aber nicht jetzt. Die Sonne ist untergegangen. Wir haben noch einige Vorkehrungen zu treffen. Lasst uns die Boote klarmachen. Ich
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