Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
der von dem alten Haus mit Anschluss an den Kanal geblieben war und der nun unter der neuen Straße lag. Das Haus selbst gab es nicht mehr und auch in dem neuen Keller, in den sie durch einen herausgebrochenen Ziegel spähten, konnten sie nichts Interessantes entdecken. Sie witterten in alle Richtungen. Nein, der Tod war hier schon lange nicht mehr zu Gast gewesen. Alles, was sie fanden, war der Kadaver einer Ratte. Ein wenig enttäuscht kehrten sie zur Kirche zurück und machten sich auf den Heimweg.
*
Ivy saß auf dem Steinboden, die Beine im Schneidersitz untergeschlagen. Sie hatte die Augen geschlossen und regte sich nicht. Es schien, als sei sie wie die Grimassen schneidenden Köpfe an der Wand zu Stein erstarrt. Doch anders als bei diesen war ihr Geist rege und schmiedete Pläne. Es gab ein Problem. Ein bislang unlösbar scheinendes Problem, für das sie einen Weg finden musste, sollten nicht alle anderen Überlegungen hinfällig werden. Aber wie konnte das gehen?
Für einen Moment fühlte sie sich verzagt. Warum sollte es ausgerechnet ihr gelingen, diese Hürde zu überwinden, wenn selbst der Meister in so unendlich vielen Jahren keine Möglichkeit gefunden hatte? War der ganze Einfall nicht vermessen? Täte sie besser daran, sich demütig zu fügen und den Platz einzunehmen, der ihr vom Schicksal zugedacht worden war?
Ivy riss die Augen auf. Sie sprang auf die Füße. Nein! Waren das überhaupt ihre eigenen Gedanken? Manches Mal war sie sich nicht mehr ganz sicher.
Sie wischte die Zweifel beiseite und schritt forsch durch die in Dunkelheit gehüllte Templerkirche, bis sie den Altar erreichte. Ihre Handflächen begannen zu kribbeln, als sie die Arme ausstreckte und mit den Fingern den einfachen Steinblock berührte, der direkt auf der Grabplatte stand. Sie musste es nicht sehen, um zu wissen, dass sie recht hatte, denn sie konnte ihre Aura ganz deutlich spüren. Ihre und die Schwingungen des hohlen mit einem Rest von Flüssigkeit gefüllten Kristalls, den sie Zeit ihres Daseins um den Hals getragen hatte.
Wer konnte schon wissen, wozu das Schicksal sie ausersehen hatte? Vielleicht war gerade sie dazu auserwählt, es zu Ende zu bringen? Aber dann musste ihr endlich eine Lösung einfallen! Ivy versuchte sich ganz auf die Überreste unter der Grabplatte zu konzentrieren, aber ihre Gedanken schweiften ab zu ihren Freunden, denen sie vielleicht keine Freundin mehr war. Sie unterdrückte das Gefühl des Bedauerns. Manchmal gab es wichtigere Dinge, die über den eigenen Wünschen standen. Hatte sie das nicht in Wien bereits geahnt? Ja, doch damals war sie noch nicht bereit gewesen, auf ihr kleines, selbstsüchtiges Glück zu verzichten. Sie hatte sich an den vergänglichen Hauch warmer Gefühle geklammert, die die Nähe ihrer Freunde ihr gaben, und wäre damit fast zur Zerstörerin ihrer Zukunft geworden. Nein, in diese Falle würde sie nicht noch einmal tappen!
Sosehr sich Ivy auch bemühte, sie konnte die Gesichter ihrer Freunde nicht aus ihrem Geist vertreiben. Hartnäckig stürmten die Erinnerungen auf sie ein. Sie konnte ihre Stimmen hören. Da war Leo mit seiner wundervollen Begabung, für den sie zärtliche Gefühle gehegt, und Luciano, in dem sie von Anfang an die noch im Verborgenen schlummernden Kräfte gespürt hatte. Mit Freude hatte sie seine Entwicklung verfolgt, die sie einfach nur grandios nennen konnte. Und dann Alisa. Sie war schon bei ihrer ersten Begegnung reifer gewesen als die meisten ihres Alters, umstrahlt von einer Aura, die einen brillanten Geist, aber auch Leidenschaft, gepaart mit Neugier und Hartnäckigkeit zeigte. Eine verteufelte Mischung, die Großes versprach. Ivy gab für einige Momente auf und lauschte mit wehem Herzen dem Vergangenen, als sie plötzlich einen Schritt zurücksprang.
Was hatte Alisa damals gesagt? Sie rief sich die Sätze ins Gedächtnis zurück. Es war in Irland gewesen, im Westen der Insel am Rand der wilden Moore, wo der Marmor von Connemara im Verborgenen schlummerte, der seine Kinder mit unglaublichen Kräften nährte. Sie hatte von der Heimaterde gesprochen, und erstaunt festgestellt, wie viel unentdeckte Magie in ihr wohnte. Ja, mithilfe der magischen Energieströme der Erde waren selbst die jungen Vampire in der Lage gewesen, Unfassbares zu leisten.
Das war es. Das war die Lösung! Über Ivys Antlitz breitete sich ein Lächeln der Erleichterung aus. Es sollte sie nicht wundern, dass es ausgerechnet Alisa war, die ihr einen Ausweg aus dem finsteren
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