Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
wissen, dass nur mein Äußeres unverändert bleibt.
Ja, du hast dich verändert, das ist mir nicht entgangen, aber so schnell? In wenigen Wochen? Dass ich dich, die du einhundert Jahre an meiner Seite warst, nicht mehr wiedererkenne?
Manches, was man über Jahrhunderte aufbaut, kann in wenigen Augenblicken zerstört werden, erwiderte Ivy bitter. Ein paar Wochen können eine lange Zeit sein!
Was hat er dir angetan? Sage es mir, Ivy! Was hat Dracula mit dir gemacht?
Doch Ivy antwortete ihm nicht. Sie liefen schweigend nebeneinander her, während die Türme vom Palace of Westminster vor ihnen aus der Nacht auftauchten. Das neugotische Parlament mit seinen unzähligen Fenstern und Türmchen wirkte wie eine ganze Ansammlung von Kirchen, am einen Ende mit dem markanten Glockenturm, in dem Big Ben die Stunden schlug, am anderen der breitere Victoria Tower mit seinen vier Ecktürmchen. Ivy hielt inne und ließ ihren Blick von der Spitze des Turms mit seiner kunstvollen Uhr herab- und an dem lang gestreckten Gebäude entlangschweifen. Dann wich sie einige Schritte zurück. Sie eilte auf die Brücke hinaus, die an dieser Stelle die beiden Ufer miteinander verband.
Was machst du da?
Sie blieb ihm die Antwort schuldig. Ivy ging bis zur Mitte der Brücke und blieb dann stehen. Sie warf prüfend einen Blick zurück und lehnte sich gegen das Geländer. Hinter ihr fuhr ratternd eine hochrädrige Kutsche vorbei, aber sie beachtete sie nicht. Sie hatte dieses Gebäude schon einmal gesehen. Genau diesen nächtlichen Anblick im wechselnden Mondlicht unter einem stürmischen Nachthimmel. Verzweiflung schlug über ihr zusammen. Das Gefühl kam so unvermittelt und war so heftig, dass sich Ivy stöhnend zusammenkrümmte.
Ivy, was ist mit dir?
Nichts!
Ihre Lüge war offensichtlich, doch was half es ihm? Sie blockierte ihre Verbindung, sodass er ganz auf seine Beobachtungen und seinen Instinkt angewiesen war– und auf die Erfahrung ihrer langen, gemeinsamen Zeit, in der es so etwas allerdings nie gegeben hatte. Was besaß überhaupt noch Gültigkeit und auf was konnte er sich stützen? Seymour begriff nicht, was vor sich ging. Er spürte nur, dass ihn Ivys Verhalten tiefer beunruhigte, als er sich eingestehen wollte. Er wusste, dass sie nach wie vor seine Gedanken lesen und seine Gefühle empfangen konnte, doch sie sagte nichts, was ihn hätte beruhigen können. Sie schottete sich nur immer weiter von ihm ab und tat verwirrende Dinge, ohne sie zu erklären. Fragend sah er zu ihr auf.
Es fiel Ivy schwer, doch sie ignorierte das Flehen in seinem Blick. Es gab im Augenblick Wichtigeres. Sie konzentrierte sich auf die fremde Verzweiflung. Sie musste den Grund dafür erfahren. Zwar ahnte sie bereits, was geschehen war, doch sie wollte es genau wissen. Was war hier an diesem Ort geschehen, und wie war es dann weitergegangen?
Wieder blitzten einige Facetten auf, dann ertönte ein Schrei in ihrem Geist, der wie eine Wunde schmerzte. Ivy prägte sich die Bilder gut ein. Sie würde den Schmerz nähren und den Stachel tiefer in sein Fleisch bohren, bis er nicht mehr anders konnte, als dem Verlangen nachzugeben. Es würde ihn verwundbar machen, ja, vielleicht sogar leichtsinnig.
Ivy ging zurück zum Westufer und umrundete das Parlamentsgebäude.
Wohin gehen wir?, versuchte es Seymour noch einmal.
Ich gehe nach Chelsea, gab Ivy zurück, wobei sie das erste Wort unnötig betonte. Seymour seufzte. Wenigstens hatte sie ihm eine Antwort gegeben, auch wenn der Tonfall und die Art, wie sie mit ihm sprach, ihm nicht gefielen.
Wie sehr du dich verändert hast. Ich dachte nicht, dass ich dich je verliere.
Ich habe mir das auch nicht gewünscht.
Wieder schwiegen sie, bis der Werwolf die Stille der Gedanken brach. Willst du mir nicht sagen, was du in Chelsea zu finden hoffst?
Hoffen? Nein, ich weiß genau, was ich in Chelsea finde. Und zwar in der St. Leonard’s Terrace Nummer 18.
Wer wohnt dort?, fragte Seymour, doch dann ahnte er, wen sie suchte. Bram Stoker?
Gut kombiniert, lobte Ivy in spöttischem Ton.
Und was willst du von ihm? Wieder einmal mit ihm zusammen verreisen? Er konnte nicht verhindern, dass seine Stimme bitter klang.
Nein, ich möchte lediglich ein wenig mit ihm plaudern. Falls ich danach eine Reise antrete, dann nicht in seiner Gesellschaft, so viel will ich dir verraten.
Wann und wohin die Reise geht, wirst du also für dich behalten, vermutete der Wolf resignierend.
Richtig. Ich werde es dir schon sagen, wenn ich der
Weitere Kostenlose Bücher