Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
atmete ein paar Mal tief durch. Dann schlüpfte sie aus ihren Schuhen und steckte sie in ihr Bündel. Ihre Röcke raffte sie nach oben und band sie mit einem Strick um die Hüfte. Dann griff sie nach dem höchsten Ast, den sie erreichen konnte, und stemmte die nackten Füße gegen die Mauer.
» Interessant, was du da vorhast.«
Latona blieb beinahe das Herz stehen. Sie war also doch entdeckt worden. In ihrem Schreck rutschten ihre Hände ab, und sie setzte sich unsanft ins Gras. Hastig sah sie sich um, konnte aber niemanden entdecken. Die Stimme war erstaunlich leise gewesen, ja, fast sanft, und– sie kam ihr bekannt vor. Doch wie sollte das möglich sein? Jedenfalls war es ganz sicher keine ihrer Gefängniswärterinnen gewesen– von denen keine mit einer sanften Stimme gesegnet war– und auch keine ihrer Mitschülerinnen.
Latona erhob sich und klopfte sich die dürren Blätter aus dem Kleid. Wieder sah sie sich um. Nichts. Hatte sie sich das nur eingebildet? Zaghaft griff sie noch einmal nach dem Ast, als die Stimme erneut ertönte.
» Meinst du, du schaffst es über die Mauer, ohne dir etwas zu brechen oder auch nur dein Kleid zu zerreißen? Ich wünsche dir viel Glück dabei. Aber was dann? Was hast du vor, wenn du auf der anderen Seite stehst? Hast du jemals daran gedacht, dass sie euch weniger einsperren als vielmehr vor der feindlichen Welt draußen beschützen soll?«
Latona sah sich hektisch um. Wer war das, und wo versteckte sie sich?
» Zeig dich! Wer bist du, und was willst du?«, zischte sie in die Nacht.
» Ich bin ganz nah bei dir, Latona. Und wer ich bin, solltest du eigentlich wissen.«
Noch während die Unbekannte sprach, schien eine Gestalt neben Latona aus dem Boden zu wachsen– oder sich aus dem Nichts zu materialisieren? Oder hatte sie sich im Baum verborgen gehalten und war geräuschlos herabgesprungen? Latona vermochte es nicht zu sagen. Sie wusste nur, dass sie nicht mehr allein im nächtlichen Klostergarten stand. Eine zierliche Gestalt im langen Gewand in der Farbe von Mondlicht stand neben ihr. Türkisfarbene Augen betrachteten sie aus einem feinen, fast durchscheinenden Gesicht. Das Haar floss wie Silber über ihren Rücken. Und wenn das Licht heller gewesen wäre, so wusste Latona, hätte die Gestalt keinen Schatten geworfen. Ja, sie erkannte das Mädchen, oder besser gesagt, die Vampirin.
» Ivy!«, stieß sie hervor.
» Ganz recht. Es freut mich, dich so unverhofft wiederzusehen.«
Die Lycana verbeugte sich mit einem Lächeln auf den Lippen, das Latona ein wenig spöttisch erschien.
» Ach, willst du mir etwa einreden, dies sei ein Zufall? Du bist hier einfach so in Oxford an diesem alten Kloster vorbeigekommen, wo ich zur Schule gehe?«
Ivy schüttelte die silbernen Locken. » Nein, ich habe nach dir gesucht, aber ich habe nicht erwartet, dich hier draußen anzutreffen. Soweit ich über die Gepflogenheiten informiert bin, müsstest du um diese Zeit in deinem Schlafsaal im Bett liegen. Könnte es sein, dass ich dich beinahe verpasst hätte?«
» Ja, schon möglich. Also sag schon, was willst du? Ich habe es nämlich eilig.«
» Du kannst es kaum erwarten, über die Mauer zu klettern und dir dann auf der Straße nach London die Füße wund zu laufen?«
» Ich werde mit der Eisenbahn fahren«, widersprach Latona würdevoll. Dann dachte sie wieder an Ivys plötzliches Auftauchen. » Wie bist du eigentlich hier hereingekommen?«
Ivy zuckte nur mit den Schultern. Über so eine Kleinigkeit lohnte es anscheinend nicht zu sprechen.
» Ich weiß, dass ihr Vampire über magische Eigenschaften verfügt und über Kräfte, die man euch nicht ansieht. Könntest du mir also über die Mauer helfen? Das wäre sehr freundlich. Es ist doch ein wenig schwieriger, als ich dachte– vor allem in diesem Kleid.« Latona zog eine Grimasse.
» Es wäre mir ein Leichtes, dir hinüberzuhelfen, aber ich werde es nicht tun«, gab Ivy aufreizend sanft zurück.
» Ach, nein? Dann lass mich vorbei, versuch ich es eben selbst noch einmal. Ich muss mich beeilen!«
Ivy rührte sich nicht von der Stelle, und Latona wagte nicht, sie zur Seite zu schieben.
» Dich beeilen? Um nach London zu kommen? Warum? Hast du Nachricht von Malcolm?«
» Nein«, gab Latona widerstrebend zu. » Aber ich kann hier nicht ein Jahr tatenlos rumsitzen, wenn er auf ein Zeichen von mir wartet.«
Ivy hob die Brauen. » Tut er das denn? Nach so langer Zeit?«
Es gab Latona einen Stich und mit aller Macht kamen ihre
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