Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
zu seinem Sarg aufzumachen. Er trat durch das Tor und setzte seinen Fuß mit Bedacht auf die erste Stufe, als er oben an der Treppe Malcolm gewahrte, der die leblose Alisa in seinen Armen hielt.
Das war zu viel!
Vermutlich wäre nachts nichts passiert. Leo hätte die aufwallenden Gefühle von Zorn und Eifersucht verdrängt, seine eisige Miene aufgesetzt und Malcolm mit einer scharfzüngigen Beleidigung bedacht– in höflichen Worten und mit distanziert kalter Stimme. Doch nun stand die Sonne bereits so hoch am Himmel, dass ihre Strahlen die Dächer golden aufleuchten ließen, und für solch eine Beherrschung fehlte dem Dracas die Kraft, die er nun benötigte, um die Treppe hinaufzustürzen und die Hände zu Fäusten zu ballen.
» Lass sie sofort los!«, knurrte er.
» Ach ja? Soll ich Alisa die Treppe herunterfallen lassen?«, gab Malcolm zurück.
» Du hast kein Recht dazu, ihre hilflose Lage auszunützen!«, fuhr Leo fort, ohne auf den dummen Einwand des Vyrad einzugehen.
» Wenn du glaubst, Alisa weiß nicht, dass ich sie jeden Morgen zu ihrem Sarg trage und zur Ruhe bette, so irrst du dich«, erwiderte Malcolm.
» Schon möglich, aber nur, weil du sie heimtückisch ausnutzt und sie täuschst.«
» Steck deinen Kopf unter kaltes Wasser oder– noch besser– zieh dich in deinen Sarg zurück und schlaf!«, rief Malcolm verärgert.
Doch Leo blieb so vor ihm stehen, dass er nicht weitergehen konnte. Er umklammerte mit der einen Hand das Treppengeländer und hatte die andere noch immer drohend zur Faust geballt.
» Gib doch zu, dass du dich nur zum Zeitvertreib mit Alisa abgibst, weil es dir immer noch nicht gelungen ist, Latona aufzuspüren. Weiß sie, dass du sie sofort fallen lassen wirst, sobald Latona auch nur in deine Nähe kommt? Dann wird Alisa nur noch Luft für dich sein.«
» Ach, du meinst, wie für dich, seit du den ersten Fuß in den Temple gesetzt hast?«, konterte Malcolm.
» Komm her und nimm ihm Alisa ab!«, befahl der Dracas Vincent, der es sich ein paar Stufen höher auf der Treppe bequem gemacht hatte und den Streit mit Interesse verfolgte.
Vincent erhob sich und nahm Malcolm Alisa aus den Armen, obgleich dieser nicht den Eindruck vermittelte, als sei er damit einverstanden. Der kleine Vampir ließ ihm keine Wahl, wollte er nicht, dass die Sache in ein unwürdiges Gezerre um Alisas leblosen Körper ausartete.
» Und was jetzt?«, wollte Malcolm wissen und wandte sich dem Dracas zu, als ihn schon der erste Faustschlag ins Gesicht traf. Malcolm taumelte. Wer hätte gedacht, dass der Dracas zu dieser Tageszeit und in diesem Zustand zu solch einem Schlag fähig sein konnte? Malcolm brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. Auch seine Reflexe waren nach Sonnenaufgang nicht in ihrer besten Form. Es gelang ihm gerade noch, dem zweiten Hieb auszuweichen, sodass er nur seine Schläfe streifte. Dafür traf er nun Leo so hart unterhalb des Auges, dass die Haut aufplatzte und ihm Blut über die Wange herabrann. Der Dracas war viel zu langsam in seinem Versuch, sich zu ducken. Leo stieß einen Wutschrei aus und hechtete vor. Er umklammerte Malcolm und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Der griff nach Leos Hals und presste ihm die Kehle zu. Ineinander verkrallt taumelten sie vor und zurück. Vincent brachte Alisa ein paar Stufen höher in Sicherheit, behielt aber den Kampf im Auge, ein seliges Lächeln auf den Lippen.
Nun schien Malcolm die Oberhand zu gewinnen und landete noch einen Schlag auf Leos Auge, doch als der nach hinten fiel, zog er Malcolm mit sich. Gemeinsam polterten sie die Treppe bis ins Vestibül hinunter. Dort wälzten sie sich auf dem Boden, umklammerten einander oder schlugen im Wechsel aufeinander ein. Es war nicht abzusehen, wer den Sieg davontragen würde. Zwar war Malcolm in einem besseren Zustand, da er von klein auf gelernt hatte, gegen die Todesstarre anzugehen, dafür kämpfte der Dracas mit all dem aufgestauten Zorn, den er so lange hinter seiner abweisenden Maske verborgen hatte.
Plötzlich öffnete sich das Tor. Ivy und Seymour traten ein und blieben ob des unerwarteten Spektakels unter dem Türrahmen stehen.
» Was ist denn hier los?«, rief Ivy.
Vincent, der mit der Last in seinen Armen ein Stück tiefer gestiegen war, um nichts zu verpassen, lieferte eifrig eine Zusammenfassung der Ereignisse.
» Nur schade, dass die Dame, um deren Zuneigung oder Ehre oder was auch immer sie sich prügeln, gar nichts von dem vortrefflichen Kampf mitbekommt. Stattdessen
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