Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
kurzer Dauer. Der tiefe Schmerz und die Verzweiflung, die er dort vorfand, ließen ihn entsetzt zurücktaumeln. Sie erschreckten ihn so, dass er die Verbindung zu Alisas Geist verlor. Und er wagte keinen zweiten Versuch, sich ihm noch einmal zu nähern.
Was zum Teufel war hier eigentlich los? Konnte es sein, dass er sich dermaßen geirrt hatte? Nein, das war nicht möglich. Sie war im Augenblick wütend auf ihn, weil er Malcolm niedergeschlagen hatte, aber der Schmerz konnte nicht seine Schuld sein. Vielleicht hatte sie sich mit Malcolm zerstritten? Vielleicht war ihr aufgegangen, dass sie nur der Lückenbüßer für ihn war und Latona niemals ersetzen konnte? Ja, so musste es sein. Anders konnte er sich die tiefe Verletzung, die er gespürt hatte, nicht erklären.
*
» Ach hier bist du.«
Alisa hatte ihn kommen hören. Beziehungsweise, gehört hatte sie eigentlich nichts, doch seine Witterung eilte ihm voraus, noch ehe seine Stimme hinter ihr erklang. Er war besorgt. Natürlich. Ihm entging schließlich nie etwas, und auch wenn er nicht wie ein Wachhund stets an ihren Fersen blieb, wusste er, was seine Schützlinge trieben und wie es ihnen ging. Vermutlich deshalb hatte Dame Elina Hindrik vom ersten Akademiejahr an zu ihrem Beschützer erwählt.
Alisa tat noch immer so, als sei sie in die Porträts vertieft, die sich an den Wänden der Galerie entlangreihten. Sie hatte ihre Fassung noch immer nicht zurückgewonnen und scheute sich, Hindrik in die Augen zu sehen, solange sie sich in diesem aufgelösten Zustand befand. Er könnte sehen, was in ihr vorging, obwohl er nicht am Unterricht der Dracas teilgenommen hatte.
Natürlich ließ sich Hindrik nicht so leicht entmutigen. Er folgte ihr langsam von einem düsteren Ölgemälde zum nächsten, scheinbar genauso interessiert in die starren Gesichter fremder Menschen und Vampire vertieft.
» Du warst nicht in der Halle, als sich die Erben dort einfanden, um ihren Becher Blut zu trinken.«
» Ja und? Ist das schlimm?«
Hindrik schien über den Klang ihrer Stimme zu sinnieren, ehe er bedächtig antwortete. » Nein, ist es nicht. Aber weißt du, du hast es nicht nötig, ein paar Pfunde zu verlieren, so wie früher ein gewisser Nosferas. Deine Kleider sitzen perfekt und bringen deine Figur ganz wundervoll zur Geltung und du hast dich– falls ich das noch hinzufügen darf– im vergangenen Jahr ganz prächtig entwickelt. Eigentlich will ich sagen, dass du zu einer nicht nur– wie jeher– erstaunlich schlauen, sondern auch wunderschönen Vampirin herangereift bist.«
Nun drehte sich Alisa doch zu ihm um. » Was soll das, Hindrik?«, rief sie schroff.
Er hob die Schultern. » Ich sage nur die Wahrheit. Darf ich das nicht?«
» Und diese spezielle Wahrheit brannte dir gerade so sehr auf dem Herzen, dass du mich im gesamten Temple gesucht hast, um sie mir sogleich mitzuteilen?«
» Nicht im gesamten Temple«, wich Hindrik aus. » Ich bin deiner Spur gefolgt.«
Alisa stöhnte ein wenig genervt. » Danke, ich habe es vernommen, aber du musst mein Selbstbewusstsein nicht aufbauen.«
Abrupt wandte sie sich wieder dem Porträt an der Wand zu. Hindrik trat noch dichter an sie heran. Sie spürte seine kühlen Hände auf ihren Schultern. Seine Worte waren nur ein Hauch.
» Bist du dir da ganz sicher, Alisa?«
Das war beinahe zu viel. Sie verspürte das Bedürfnis, sich in seine Arme zu werfen und hemmungslos zu schluchzen, doch sie beherrschte sich. Sie konzentrierte sich auf das Bildnis vor sich, um ihren Gleichmut wiederzufinden. Sie nahm die Züge des Mannes in sich auf, die ihr seltsam vertraut erschienen. Wie konnte das sein? Das Bild musste mehr als einhundert Jahre alt sein. Und doch musste sie an ihre Abenteuer im fernen Transsilvanien im vergangenen Jahr zurückdenken. Ihr Blick strich zum unteren Rahmen und blieb an dem Namen, der darunter stand, hängen. Alisa stieß einen Ruf der Verblüffung aus.
» Hindrik, sieh mal. Weißt du, wer das ist?«
Der Servient beugte sich vor. » Van Helsing«, las er vor. » Ja, die Züge sind den seinen ähnlich, das muss ich sagen. Ich erinnere mich an ihn, obgleich ich ihm nur einmal begegnet bin.«
» Das kann er nicht sein«, widersprach Alisa. » Das Gemälde ist viel zu alt. Er ist ein Mensch, da bin ich mir ganz sicher, und selbst wenn er ungewöhnlich jung aussehen sollte, kann er unmöglich älter als fünfzig oder sechzig Jahre sein.«
» Dies ist auch nicht der Abraham van Helsing, den wir kennenlernen
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