Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
doch ich muss wohl anerkennen, dass du dich in Beherrschung geübt hast. Daher will ich heute Nacht großzügig mit dir sein und deinen Wissensdurst befriedigen.«
Razvan glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu dürfen. Begierig sah er zu seinem Meister auf.
» Die Vorbereitungen sind abgeschlossen«, begann er und machte dann eine Pause, in der er den Buckligen spöttisch musterte, doch der hütete sich, seine Ungeduld zu zeigen. Endlich sprach Dracula weiter.
» Ich habe noch in der Nacht, in der ich dir deinen Auftrag gab, mit einer Kanzlei in London Kontakt aufgenommen. Ein altehrwürdiges Haus, dessen Dienste ich früher schon einmal in Anspruch genommen habe. Ich gab den Auftrag, in Holborn oder in der Nähe ein Haus in ruhiger Lage für mich anzumieten, und bekam schon bald einen Brief von einem Jonathan Harker. Der Witterung des Briefes nach zu urteilen einer der jüngeren Angestellten der Firma, aber das nur nebenbei. Ich wies ihn an, einen schnellen und sicheren Transportweg zu finden, um fünfundzwanzig schwere– sagen wir, Kisten, nach London zu bringen.«
Razvan seufzte auf. » Die Särge reisen nach London? Und sagtet Ihr nicht gerade fünfundzwanzig?«
Dracula nickte. » Ja, ich werde die wertvolle Fracht begleiten.«
Der Bucklige konnte sich zwar immer noch nicht vorstellen, was für einen Sinn es haben sollte, einfache Erde über Tausende von Kilometern zu transportieren, doch immerhin wusste er nun, wie es weitergehen würde.
» Ihr reist also nach London. Wann und auf welchem Weg? Der Pass ist bereits verschneit«, sprudelte er hervor, ehe er sich zurückhalten konnte, doch der Meister war in gnädiger Stimmung und rügte ihn nicht.
» Ich breche schon morgen Nacht auf. Bei Einbruch der Dunkelheit werden die Zigeuner, die mir schon manchen Dienst erwiesen haben, mit ihren Wagen das Tal hochkommen und die Särge aufladen. Mit ihren kräftigen Pferden werden sie ihre Fracht nach Süden bis zur Donau bringen, wo ein wendiges kleines Dampfschiff wartet, das uns bis zur Mündung bringt. Ein paar der Männer begleiten mich bis dorthin, wo die Särge auf die Odysseus umgeladen werden. Ein hochseetauglicher Schoner, der uns rasch durch die Dardanellen ins Mittelmeer bringen wird. Von dort nimmt er Kurs auf die Straße von Gibraltar und folgt dann der Küste Spaniens und Frankreichs bis wir die Mündung der Themse erreichen. Und in kaum drei Wochen landen wir in London an.«
Razvan überlegte. » Ginge es nicht schneller, Europa mit dem Zug zu durchqueren und sich erst in Hamburg oder Rotterdam einzuschiffen?«
Dracula nickte. » Ja, schon. Das ist es auch, was jener junge Harker mir zuerst vorschlug, aber so recht will mir das nicht schmecken. Es wäre notwendig, die Fracht mehrmals auch bei Tage umzuladen. Ich möchte nicht, dass etwas schiefgeht und unsere ganz speziellen Kisten eventuell zu viel Aufmerksamkeit erregen.«
» Ich könnte doch mitkommen und dafür sorgen, dass alles glattgeht«, rief der Diener eifrig.
» Nein. Was kannst du schon ausrichten, wenn die Posten an der Grenze zu Österreich oder Deutschland ihre neugierigen Nasen in die Särge stecken? Du bleibst hier auf Poienari.«
Enttäuscht schwieg Razvan.
» Wir machen es, wie ich gesagt habe. Selbst wenn uns die Winde ungünstig stehen, werden wir London rechtzeitig erreichen.«
» Rechtzeitig wofür?«, wagte der Bucklige zu fragen.
» Nicht wofür«, korrigierte Dracula. » Rechtzeitig vor der längsten Nacht des Jahres, in der die Kräfte der Finsternis herrschen, ehe die Wintersonnwende die Macht des Tages wieder ansteigen lässt. Der erste Sonnenaufgang ist einer der magischsten Augenblicke des ganzen Jahres. Und nun geh hinauf in mein Gemach und kümmere dich um mein Gewand, das ich auf der Reise tragen werde. Ich muss mich in London unter Menschen bewegen können.«
Razvan nickte und entfernte sich, obgleich er noch immer nicht verstand. Leider gab es nur wenig Hoffnung, dass der Meister ihm vor seiner Abreise seine Pläne noch deutlicher auseinandersetzen würde.
*
Die nächste Woche wurden die Erben nicht geschont. Die Vyrad halfen ihnen in ihrem Kampf gegen den Ruf der Sonne, konnten den Erben den Schmerz allerdings nicht dauerhaft abnehmen, den es zu überwinden galt. Nicht alle besaßen die Stärke, ihre Konzentration aufrechtzuerhalten und dem Drängen zu widerstehen, das zu einem dumpfen Schmerz wurde und den Körper in Stücke zu reißen drohte. Alisa kämpfte. Vincent war nicht mehr bereit, ihr seine
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