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Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad

Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad

Titel: Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulrike Schweikert
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dahinwelken. Nacht für Nacht wurde er schwächer, bis er am vierten Morgen verstarb. Kein Fieber, kein Ausschlag, nur zwei winzige, nässende Wunden am Hals. Wie der Biss einer Schlange.
    War es möglich, dass sich ein giftiges Schlangengetier im Laderaum verkrochen hatte? Die Männer suchten jeden Winkel des Dreimasters ab, konnten aber außer einigen toten Ratten nichts entdecken.
    Dann verschwand der Schiffsjunge. Spurlos. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit, als der Maat ihn mit einem Auftrag nach Backbord schickte, wurde er das letzte Mal gesehen. Die Leiche des Maats wurde eine Nacht später im Gang zu den hinteren Laderäumen entdeckt, wo sich die fünfundzwanzig schweren Kisten stapelten– die erstaunlich an Särge erinnerten–, welche der Kapitän nach London bringen sollte.
    Der Maat hatte sich das Genick gebrochen. War er die steile Treppe hinuntergestürzt? Ja, die See wurde immer rauer, je weiter sie das Mittelmeer nach Westen durchquerten, doch konnte einem Mann seiner Erfahrung solch ein Missgeschick geschehen? Er war mehr als fünfundzwanzig Jahre zur See gefahren! Oder hatte ihm ein Mitglied der Besatzung eins über den Schädel gegeben und ihn dann dort unten liegen lassen? Der Maat war kein einfacher Mann gewesen und hatte oft den Unmut der Mannschaft entzündet. Der Kapitän vernahm mit Sorge das Geflüster der Männer. Am wahrscheinlichsten erschien ihnen, in Achmed, dem kräftigen Schwarzen vom Rand der Sahara den Schuldigen zu suchen, doch offen auszusprechen traute sich das niemand. Dann aber war der hünenhafte Schwarze der Nächste, der bei seiner nächtlichen Wache verschwand, gerade als sie die Straße von Gibraltar hinter sich gelassen hatten. Eine Stimmung von Furcht und Misstrauen breitete sich unter den Männern aus, die sich, als das nächste Besatzungsmitglied verschwand, in Panik wandelte.
    Dracula las die Logbucheinträge und sog genüsslich die Atmosphäre der Angst in sich ein. Für heute Nacht beschloss er, sich zurückzuhalten. Der Sturm wurde immer stärker, und er fürchtete, die Männer könnten die Kontrolle über das Schiff verlieren, sollte er die Mannschaft noch weiter dezimieren. Vielleicht würde der Kapitän Lissabon anlaufen und neue Männer anheuern. Dann könnte er sich satt trinken. Ansonsten würde er ein wenig darben müssen, bis sie den Kanal hinter sich gebracht hatten und in die Themse einliefen.
    Dracula las die letzten Einträge noch einmal durch und lachte leise vor sich hin. Es gefiel ihm. Die Fahrt mit dem Schiff durch die raue See, der Geruch nach Blut, Schweiß und Angst der Männer um ihn und die fiebrige Vorfreude, die mit jeder Seemeile wuchs, die sie sich London näherten. Fast hätte er seinen Vorsatz über Bord geworfen und sich über den Koch hergemacht, der gerade draußen die Tür der Kapitänskajüte passierte. Doch der Meister hielt sich zurück. Er konnte nicht riskieren, dass die Männer vor lauter Angst ihrer Arbeit nicht mehr nachkamen. Vor allem durften sie nicht auf den Gedanken kommen, die Ursache ihres verteufelten Pechs hier an Bord zu suchen. Nicht auszudenken, wenn sie auf den Einfall kamen, die Kisten in ihrem Laderaum zu durchsuchen. Er würde auf der Hut sein müssen. Der letzte Eintrag des Kapitäns sprach von einem Fluch, den das Schiff und seine Mannschaft heimgesucht zu haben schien. Sollten seine Gedanken noch weiter in diese Richtung wandern, würde sich Dracula gezwungen sehen, sich als Nächstes den Kapitän vorzunehmen und das Logbuch zu den toten Männern auf den Meeresgrund zu schicken.
    Doch noch überließ er dem fähigen alten Seebären das Kommando und freute sich über jede Meile, die sie durch die schäumenden Wogen zurücklegten und seinem Ziel entgegeneilten.
    *
    Ivy saß wieder einmal in der Templerkirche. Sie hatte sich einen Platz mitten im Rund des alten Kirchenschiffs zwischen den Grabmälern der Kreuzritter gewählt. Die Fratzen schneidenden Steinköpfe starrten auf sie herab.
    Da saß sie nun mit untergeschlagenen Beinen und wartete, während die letzten Minuten der Nacht verrannen. Ivy spürte das bekannte Ziehen in ihrem Leib, als sich hinter Londons Dächern die Sonne erhob, doch sie blieb reglos sitzen. Von Minute zu Minute wurde es heller in der Kirche. Die Farben der Fenstermosaiken begannen zu glühen. Und dann fiel der erste Sonnenstrahl durch das östlichste Fenster und schnitt einen glühenden Streifen aus dem Steinboden. Die Helligkeit schmerzte Ivy in den Augen, doch noch immer rührte sie

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