Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
sich nicht. Sie verfolgte die Wanderung des Sonnenfelds. Dann tauchte ein zweites auf und folgte dem ersten bei seinem langsamen doch unaufhaltsamen Gang durch das Kirchenschiff. Endlich, als der gleißende Strahl schon beinahe ihr Gewand berührte, erhob sich Ivy und zog sich bis zur Tür zurück. Sie wartete noch einige Minuten, dann erst verließ sie die Kirche. Der Eingang im Westen lag noch im Schatten, und auch der ein wenig tiefer gelegene schmale Hof auf der Nordseite. Er endete in einer langgezogenen Nische, zwei Schritte tief unter dem Plattenweg, der zum Garten hinter dem Chor führte. Ivy ließ ihren Blick aufmerksam schweifen und nahm jedes Detail in sich auf. Dann huschte sie, den Schatten folgend, von einem Hof zum nächsten und zog sich in die schützende Dunkelheit ihres Sarges zurück.
*
Einige Nächte nach ihrem Besuch bei Scotland Yard begann der Prozess gegen den mutmaßlichen Mörder Oscar Slater, einen deutschstämmigen Juden, den Scotland Yard durch den heldenhaften Einsatz seiner Kommissare auf der Flucht nach Amerika verhaften und nach London zurückbringen hatte können, wo er nun vor Gericht gestellt wurde.
Ganz gleich, was im Gerichtssaal geschehen würde, alle waren aufgeregt und höchst angespannt, sollte das doch ihr erster Ausflug bei Tageslicht werden! Luciano hatte in den vergangenen Nächten gute Fortschritte gemacht, sodass auch er am Prozess teilnehmen konnte. Clarissa dagegen war vor Sonnenaufgang zu ihrem Sarg zurückgekehrt und lag nun dort in ihrer Todesstarre, was Luciano nicht unrecht war, wie er Alisa anvertraute.
» Weißt du, da ist sie gut aufgehoben und kann nicht zu Schaden kommen. So ganz ungefährlich ist dieses Unterfangen für uns Vampire schließlich nicht.«
» Und solange sie schläft, kann sie in deiner Abwesenheit auch nicht mit Lord Byron flirten«, fügte Alisa hinzu, und obgleich Luciano protestierte und versicherte, keine so niederen Gedanken zu hegen, wusste sie, dass er genau daran gedacht hatte.
Natürlich konnte auch Hindrik sie nicht begleiten, doch einige der Vyrad wurden von Lord Milton bestimmt, an der Seite der Erben zu bleiben und ihnen zu helfen, sollten ihre Kräfte nachlassen.
Die Sonne ging irgendwo hinter dichten Wolken verborgen über London auf. Das waren die schwersten Minuten, in denen die Erben all ihre Kräfte zusammennehmen mussten, um den uralten Drang zu bekämpfen. Neidisch sah Alisa Malcolm völlig entspannt ihr gegenübersitzen, während sie die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht laut zu stöhnen.
Er tut nur so ungerührt, hörte sie Leos Stimme in ihrem Kopf. Es strengt auch die Vyrad ganz schön an, zumindest so lange, bis die Sonne den Horizont verlassen hat.
Lange hatte er nicht mehr so mit ihr gesprochen. Warum tat er das? Was hatte er vor? Wobei es sie fast noch mehr wunderte, dass er in diesem Moment die Kraft aufbrachte, in ihre Gedanken einzudringen. Alisa benötigte all ihre Energie, die Augen offen zu halten und nicht zu seinen Füßen zusammenzusinken und einzuschlafen. Vielleicht war es gerade der Gedanke an die Peinlichkeit, vor Leos Augen zu versagen, der ihr die Kraft gab, die kritischen Minuten zu überstehen, ohne dass Vincent eingreifen musste.
» Gut gemacht«, lobte der seine Schülerin, als sich ihre Glieder entkrampften und sie sich ihm mit einem Lächeln zuwandte. » Wie ich sehe, werden meine Kräfte nicht mehr gebraucht.«
» Ja, du kannst zu deinen Romanen zurückkehren«, antwortete Alisa, doch Vincent schüttelte den Kopf. » Nein, ich werde euch begleiten. Der Fall interessiert mich.«
» Lassen die denn auch Kinder in den Gerichtssaal?«, erkundigte sich Tammo.
Vincent maß den Dreizehnjährigen mit überheblichem Blick. » Das musst ausgerechnet du sagen!«
Tammo antwortete mit einem entwaffnenden Lächeln. » Immerhin sehe ich drei Jahre älter aus als du. Und ich vermute mal, es ist ratsam, dass du dich mit deinem Wissen und deiner Erfahrung zurückhältst, wenn du keinen Aufruhr im Gerichtssaal verursachen willst.«
» Mach dir keine Sorgen, dessen bin ich mir bewusst«, sagte Vincent würdevoll. » Die Menschen müssen ja nicht merken, wer hier auf wen aufpasst.« Er hakte sich bei Alisa unter.
Es war ein kalter, wolkenverhangener Dezembertag, und dennoch kam Alisa alles grell vor. Zum Glück mussten sie heute nicht fürchten, plötzlich von einem Sonnenstrahl erwischt zu werden, zumindest versicherte ihnen das Lord Milton, der sich damit wohl auskennen musste. Er trug
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