Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
recht lebensechtes Kamel mit hängender Unterlippe, eine kleinere Sphinx und drei entsprechend gekleidete Personen darstellte. Von der nächsten Ecke ragte ein Elefant auf. Die anderen beiden Tiere waren ein Bison und ein Stier.
Gedankenverloren sah Latona das Kamel und die Sphinx an. Diese Skulpturen verkörperten offenbar die Kontinente. Diese hier mit dem Kamel war Afrika, die Gruppe mit dem Elefanten Asien, das Bison stand für Amerika und der Stier für das alte Europa. Europa? Natürlich.
Und wo würde sie Malcolm suchen? Wo lebten die Clans der Vampire? In Europa!
Latona raffte die Röcke und rannte zu der Skulptur mit dem Stier und drei Frauen in wallenden Gewändern. Hatte sie richtig gedacht? Konnten das Malcolms Überlegungen sein? Hier kam sie hin, ohne über Zäune zu steigen und ohne Aufsehen zu erregen, indem sie sich über die pyramidenförmigen Treppenstufen hinauf der Statue von Prinz Albert näherte. Latonas Finger glitten über den glatten weißen Stein der Figurengruppe, bis sie einen Spalt in einer der Gewandfalten entdeckte. Sie schob ihre Finger hinein und ertastete etwas, das sich wie Leder anfühlte. Mit bebenden Händen zog sie eine kleine, lederbezogene Schachtel hervor, auf der sie ihren Namen sah. In ihrem Innern lag ein zusammengefaltetes Blatt mit nur wenigen Zeilen, die aber alles sagten, was sie sich in ihren Träumen ersehnt hatte:
Latona,
meine Geliebte, komm nach Einbruch der Dunkelheit zum Temple Inn Court und klopfe an das Tor des Pförtnerhauses in der Fleet Street. Fürchte Dich nicht. Niemand wird Dir etwas antun, denn ich habe Dich gezeichnet. Ich werde auf Dich warten. Bis in alle Ewigkeit.
Malcolm
Die Worte verschwammen vor ihren Augen. Tränen rannen ihr über die Wangen. Vor Glück, vor Erleichterung und vor Trauer um so viel verlorene Zeit. Nein, sie würde keine einzige weitere Nacht mehr verschwenden! Heute noch würde sie Malcolm in die Arme schließen.
Zwar war sie schrecklich müde, immerhin war sie die ganze Nacht wach geblieben. Vermutlich sah sie furchtbar aus. Mit Sehnsucht dachte sie eine Weile an ihr gemütliches Zimmer unter dem Dach in Brams Haus in Chelsea, doch den Gedanken verwarf sie sogleich wieder. Wie hätte sie ihm erklären sollen, dass sie bereits mehr als eine Woche vor Weihnachten zurückkam? Es könnte zu viele Fragen geben und womöglich würde sich ihr keine Gelegenheit bieten, nach Einbruch der Dunkelheit das Haus wieder zu verlassen. Nein, obwohl sie sich sogar danach sehnte, Bram noch einmal zu sehen, verwarf sie diesen Gedanken. Nein, heute Nacht würde sie Malcolm wiedersehen.
Wie der englische Vampirclan wohl residierte? Latona verließ den Park und stieg in der Kensington Road in einen Pferdeomnibus, der sie bis zum Trafalgar Square brachte. Was für ein buntes Treiben herrschte hier auf dem Platz um die Statue von Admiral Nelson und die großen Brunnen davor. Und auch in The Strand pulsierte das Leben. Latona schlenderte die überfüllte Straße entlang. Die unzähligen Karren und Kutschen kamen kaum voran. Dazwischen Reiter und vornehme Fußgänger, einfache Arbeiter und Dienstmädchen und ein Heer zerlumpter Kinder, die irgendeinen Dienst für einen Penny anboten oder versuchten, sich mit kleinen Diebstählen über Wasser zu halten.
Latona erkannte, dass sie ihr Ziel zu Fuß vermutlich schneller erreichen würde, und machte sich voller Vorfreude auf den Weg, bis sie die alte Templerniederlassung erreichte. Die Tore waren geöffnet. Zögernd trat sie ein. Niemand war zu sehen. Es war ein seltsames Gefühl, den leeren Hof zu durchqueren, dessen Stille nach dem Trubel auf der Straße noch intensiver auf sie wirkte. Hier also wohnten die Vyrad. Latona ließ den Blick über die Ziegelwände der Gebäude streifen, die ernst und erhaben wirkten. Ja, sie fand, die Umgebung passte zu ihm. Ihr Schritt hallte auf dem Pflaster, als sie einen Hof nach dem anderen überquerte und dann vor einem runden Kirchenschiff mit einem rechteckigen Chor stehen blieb. Sie versuchte sich vorzustellen, wo Malcolm jetzt ruhte. Lag er in einem Sarg? Träumte er während des Tages oder fiel er einfach in eine Art Todesstarre?
Latona gähnte herzhaft bei dem verführerischen Gedanken an Schlaf. Sie war so müde. Die Füße taten ihr weh. Sie fror und ihr Magen schmerzte vor Hunger. Ihr Blick wanderte zum Himmel. Es würde noch Stunden dauern, bis es dunkel wurde. So lange wollte sie hier nicht auf und ab gehen.
Latona wandte sich der Themse zu und trat
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