Die Erben der Nacht - Vyrad - Schweikert, U: Erben der Nacht - Vyrad
zum Temple zurück. Doch je näher sie dem Tor am Pförtnerhaus kam, desto langsamer wurden ihre Schritte. Nicht dass sie an ihrem Entschluss zweifelte. Doch der Gedanke, gleich einem völlig fremden Vampir entgegentreten zu müssen, um ihn nach Malcolm zu fragen, bereitete ihr ein ungutes Gefühl. Sie war zu lange mit ihrem Onkel Carmelo auf Vampirjagd durch aller Herren Länder gezogen, um sich irgendwelchen Illusionen hinzugeben. Vampire waren gefährliche Jäger der Nacht. Tödliche Raubtiere, zu deren Beute sie sich zählen musste.
Aber hatte Malcolm in seinem Brief nicht versichert, dass man sie erkennen und ihr nichts antun würde? Und hatte sich nicht auch in Wien der Vamalia Hindrik als vertrauenswürdig erwiesen? Es gab keinen Grund zur Furcht!
Entschlossen trat sie vor das zur Nacht verschlossene Tor und betätigte den Klopfer. Der Ton war noch nicht verklungen, als eine Gestalt geräuschlos aus einer schmalen Nebenpforte trat. Obwohl Latona den Vampir erwartet hatte, zuckte sie zusammen.
» Sie wünschen, Miss?«
Latona sah ihn neugierig an. Ja, er war ein Vampir. Unzweifelhaft. Die blasse Haut, der durchdringende Blick. Auch konnte sie trotz der Gaslaternen, die entlang der Fleet Street brannten, keinen Schatten erkennen.
Der Pförtner war kaum größer als sie selbst, aber von breiter Statur. Er trug eine dunkelblaue Uniform mit großen Goldknöpfen und hielt sich sehr gerade. Nein, er sah Malcolm nicht im Geringsten ähnlich, dennoch nahm sie an, dass er zu den Vyrad gehörte, vermutlich aber unreinen Blutes war. Er hatte etwas Schottisches an sich, dachte sie.
» Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?«, unterbrach der Pförtner, noch immer höflich, ihre Musterung.
» Ich möchte zu Master Malcolm«, sagte sie rasch. » Er erwartet mich«, fügte sie kühn hinzu. Irgendwie stimmte das ja auch, selbst wenn er nicht gerade in dieser Nacht mit ihrem Kommen rechnete.
Der Vyrad hob kaum merklich die Brauen. » Es tut mir leid, Miss, davon ist mir nichts bekannt.«
» Aber könnten Sie ihm Bescheid geben, dass ich hier bin und auf ihn warte? Latona ist mein Name, Latona Canning. Bitte!«
Der Pförtner sah sie noch immer unverwandt an. Latona bemerkte, wie sich seine Nasenflügel blähten. Er nahm ihre Witterung auf. Konnte er riechen, dass Malcolm sie gezeichnet hatte? Sie wagte nicht, ihn danach zu fragen.
» Es tut mir leid«, wiederholte er. » Ich würde Ihnen gerne behilflich sein, doch Master Malcolm ist im Augenblick nicht hier.«
Verdattert starrte Latona den Vampir an. Natürlich war er unterwegs. Wie hatte sie glauben können, Malcolm verbringe jede Nacht im Schutz der Templermauern?
» Wann wird er denn zurückkommen?«, fragte sie tapfer weiter.
» Bei Tagesanbruch, vermute ich«, sagte der Pförtner. » Möchten Sie hereinkommen und auf ihn warten?«
Latona meinte Gier in seiner Stimme wahrzunehmen. Vielleicht konnte man sich doch nicht auf alle Vyrad verlassen? Eine ganze Nacht mitten unter fremden Vampiren? Vielleicht war das keine so gute Idee. Latona hob unentschlossen die Schultern.
» Wissen Sie, wohin er gegangen ist?«
Der Pförtner nickte. » Er und einige Freunde haben sich auf den Weg nach Whitechapel gemacht. Das ist im Nordosten der City, aber ich würde Ihnen nicht raten, zu dieser Nachtzeit alleine dorthin zu gehen, Miss, wenn Sie mir diese Bemerkung gestatten«, fügte er hinzu, da er ihre Gedanken zu erahnen schien.
» Danke. Ich werde dann später wiederkommen«, sagte Latona, ohne darauf einzugehen, ob sie seinen Rat beherzigen wollte. Das wusste sie selbst noch nicht.
Vorerst folgte sie weiter der Fleet Street und dachte nach, welche Möglichkeiten sich ihr boten. Sie konnte sich wieder in einen Pub setzen und warten. Dort wäre es wenigstens warm. Oder in eine Kirche, in der sie auf alle Fälle sicher sein würde. Oder sie nahm den Vorschlag des Pförtners an und wartete irgendwo im Innern des Temple auf Malcolms Rückkehr.
Unentschlossen schritt sie weiter auf die City zu. Sie konnte die Kuppel von St. Paul vor sich aufragen sehen. Latona passierte die riesige Kathedrale, die Christopher Wren nach dem großen Stadtbrand 1666 entworfen hatte. Noch immer hatte sich Latona nicht entschieden, und so ging sie weiter. Ohne darüber nachzudenken, wandte sie sich nach links. Sie kam zur alten Guildhall , die Hunderte von Jahren Rathaus und Zentrum der Macht in der City of London gewesen war. In der großen Halle waren aufsehenerregende Prozesse geführt
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